„Will dein Nachbar mit dir streiten,
setze dich nicht gleich zur Wehr,
verdopple deine Höflichkeiten,
’s ist christlicher und ärgert mehr.“
Die Sprüche aus dem Fundus meiner Großmutter waren eine Fundgrube praktikabler Lebensweisheiten. Oft trafen ihre Bonmots wie die Faust aufs Auge. Sie wurde mir zum Vorbild, mit Humor eine Situation zu meistern oder Entscheidungen zu treffen. Meine Freunde zogen zuweilen schon die Augenbrauen hoch, wenn ich begann: „Meine Oma hat immer gesagt: …“
Aber Oma hat nicht nur Sprüche gemacht, sie handelte auch danach. Obwohl sie mit ihrem Mann in den 20er Jahren aus der Kirche ausgetreten war, lebte sie nach Grundwerten, die eigentlich christlich waren. Das hätte sie natürlich nie zugegeben.
Kriegsspielzeug im Kinderzimmer – undenkbar!
„Versucht, mit allen Menschen Frieden zu halten“ und „Bleibt auf dem geraden Weg“ könnte aus dem Repertoire meiner Großmutter stammen. Aber es sind Fundstücke aus einem der Briefe des Neuen Testaments, dem Hebräerbrief. Großmutter hatte zwei Weltkriege überlebt. Ihr Sohn war als Soldat der Kriegsmarine in der Nordsee bestattet worden. Nach 1945 wurde sie mit vielen Weimarer Einwohnerinnen und Einwohnern durch das Konzentrationslager Buchenwald geführt.
Der Krieg und diese Unmenschlichkeit hatten sie innerlich verletzt. Sie konnte keine Kriegsfilme sehen. Sie wollte nicht an den Schmerz und die Grausamkeiten erinnert werden.
Als ihr Enkel, der bei ihr aufwuchs, bekam ich keine Spielzeugwaffen. Panzer und andere Kriegsfahrzeuge waren als Spielzeug undenkbar. Uniformen weckten die Angst jener Zeiten wieder auf. Die Art, wie sie mich aufzog, nannte man später, Ende der 70er Jahre, „Friedenserziehung“.
Das Pflänzchen Hoffnung hüten
Könnte sie heute, angesichts des Krieges, der von der Ukraine aus seine Schatten über ganz Europa wirft, ihrer Meinung und ihrer Lebensweise treu bleiben? Würde sie die Kämpfe gutheißen oder für Verhandlungen und Kompromisse plädieren, um Menschenleben zu bewahren? Würde sie die heimatlosen Einwanderer unterstützen?
Ich kann es nicht sagen.
Ich weiß nur, dass sie trotz ihrer wechselhaften Lebenserfahrung das Pflänzchen der Hoffnung gehütet hat. Nachdem ihr Sohn gefallen war, hat sie ein Pflegekind aufgenommen. Frieden zu halten mit jedermann und geradlinig zu bleiben, hat sie durch drei verschiedene Gesellschaftssysteme getragen.
Auch aus Bösem kann Gutes entstehen
Sie trug etwas in sich, das den Zusammenbruch der Weimarer Republik überdauert hat, das Hitlers Rassenideologie getrotzt und die Stasigesellschaft der DDR überlebt hat. Im Herzen war sie stärker geworden, trotz der Bombennächte, trotz der Trauer um ihren Sohn, trotz der wirtschaftlichen Einbrüche. Sie musste schmerzvoll lernen, dass auch bei größten eigenen Anstrengungen das Leben voller Überraschungen ist. Die positiven waren dabei wohl die selteneren. Deshalb war sie dankbar für alles, was gelang. Der Geist, der sie trug, war verlässlicher als der jeweilige Zeitgeist. Dass dieser Geist seinen Ursprung in der Bibel hat, hat sie sich sicher nicht eingestanden. Aber sie hat danach gelebt. Und das ist das Entscheidende.
Vielleicht hätte sie sogar Dietrich Bonhoeffer zustimmen können, der schrieb: „Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will. Dafür braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen.“
Und vielleicht hatte Dietrich Bonhoeffer solche Menschen wie Großmutter vor Augen, als er seine Hoffnung niederschrieb.