Das Wort zum Sonntag: "Tag der Deutschen Einheit"
Pfarrer Dr. Wolfgang Beck
01.10.2011 22:10

Ich erinnere mich an den Besuch als Schüler an der innerdeutschen Grenze im Harz: An Grenzanlagen und Grenzposten mit Gewehren. Und an Fernrohre, die auf uns gerichtet waren. Spannend war das für uns. Aber sonst? Ich muss gestehen, dass ich abgesehen von diesem Ausflug keine großen Erinnerungen an die innerdeutsche Teilung habe. Obwohl doch diese Grenze so einschneidend war. Jahrzehntelang hat sie Familien getrennt. Für viele war sie bis zum Herbst 1989 unüberwindbar. Doch ich bin für vielfältige Erinnerungen an diese Zeit schon etwas zu jung – wie so viele.

Ich war im Jahr des Mauerfalls ein Teenager in Hildesheim. Und ich kam irgendwie durchs Leben, ohne mir allzu viele Gedanken zu machen über die DDR und das Leben der Menschen dort. Sicher, es gab diese Klassenfahrt. Viel mehr aber nicht. Wenn am kommenden Montag, dem 03. Oktober der Tag der Deutschen Einheit begangen wird, dann wird der Blick zurück geworfen: In Dokumentationssendungen und Reden wird an die Teilung Deutschlands erinnert. Mauer und Zaun, die dramatischen Schicksale von Menschen. All das berührt mich und hat mich immer wieder auch bewogen, Städte und Gedenkstätten in den östlichen Bundesländern zu besuchen. Doch genügt das? Ich meine: So groß die Freude über die Einheit des Landes ist, so sehr gilt es immer auch, nach der Einheit unserer Gesellschaft zu fragen. Wie steht es darum?

Wie erklärt man einem hilfsbedürftigen Menschen bei den Lebensmittelausgaben in unseren Städten, weshalb der Spitzensteuersatz in unserem Land relativ niedrig ist und es keine Vermögenssteuer gibt? Arbeitnehmern, die nur einen Mindestlohn bekommen, dürften wohl kaum verstehen, weshalb Managementfehler in Banken und Unternehmen durch Steuergelder ausgeglichen werden.

Da stellt sich für mich unausweichlich die Frage nach der Einheit der Gesellschaft! Mir selbst hilft in dieser Situation der Blick auf die biblische Geschichte der Israeliten. Da ist ein Volk, das Phasen der Trennungen und Spaltungen erlebt hat und damit umgehen muss. Nun wäre es naiv, daraus eine direkte Verbindung zu politischen und gesellschaftlichen Debatten der Gegenwart abzuleiten.

Doch eines fällt mir da auf: In der Überlieferung dieses Volkes hat das Bemühen um territoriale Einheit einen relativ geringen Stellenwert. Von viel größerer Bedeutung ist die Einheit als Gesellschaft. Eigentlich ist das Bemühen um das eigene Land sogar untrennbar verbunden mit dem Bemühen um die gesellschaftliche Einheit und Gerechtigkeit. Und so wenden sich beispielsweise die Propheten immer wieder gegen ungerechte Zustände lautstark zu Wort. Diese Männer und Frauen machen mutig ihren Mund auf. Sie erinnern ihre Landsleute daran: Gott will Gerechtigkeit!

Aber entscheidend ist nicht allein der Protest der Propheten. Entscheidend ist vielmehr ihre tiefe Solidarität mit den Menschen ihrer Zeit, vor allem mit den Benachteiligten. Sie sind durch und durch solidarisch! Und deshalb lassen sie sich auf ihren ganz spezifischen Auftrag ein: Sie prangern Missstände an, üben Kritik und fordern Änderungen ein.

Aber, was hat das mit dem Tag der Deutschen Einheit zu tun? Ich meine, der Tag sollte mehr sein, als ein Blick zurück. Er könnte mehr ausdrücken, als Freude über territoriale Einheit des Landes. Wie wäre es, an dem Tag vermehrt das Bemühen um gesellschaftliche Einheit in den Mittelpunkt zu stellen? Natürlich: Das bringt viele unangenehme Fragen mit sich. Um die auszuhalten und nach Antworten zu suchen, braucht es ein bisschen Mut. Aber das war auch zur Zeit der Propheten nicht anders.

Es geht also nicht nur darum, sich an die errungene Einheit eines Landes zu erinnern. Es gilt, sich immer wieder neu darum zu bemühen – um diese Einheit der Gesellschaft; diese Einheit gilt es gemeinsam anzupacken.

Ich wünsche Ihnen einen gesegneten Sonntag.

Sendeort und Mitwirkende

Kath. Rundfunkreferat NDR

Andreas Herzig
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