Steiler Aufstieg
Er wurde ein Selfmademan, wie sie in den Vereinigten Staaten so typisch sind: Als John in jungen Jahren von der Armee kam, damals nach dem Großen Krieg, hatte er wenig mehr als seine geschickten Hände , dazu einen hellen Kopf, seinen großen Fleiß – und die Chance, die Tankstelle in seinem Heimatstädtchen in Michigan zu pachten. Ein paar Jahre später hatte er der großen Ölgesellschaft gezeigt, dass er so verlässlich mit Menschen und so umsichtig mit den Chancen des Marktes umgehen konnte, dass er der richtige Mann war, um für sie das Tankstellengeschäft in der ganzen Region zu organisieren. Später dann auch weit über Michigan hinaus.
So wurde er Manager. Der steile Aufstieg forderte John, seine Zeit, seine ganze Kraft, viele Jahre lang; brachte ihm andererseits auch ein ansehnliches Einkommen und ein hübsches Haus in der Vorstadt. Aber der Erfolg stieg ihm nie zu Kopf. Es gab immer drei, vier Dinge, die er nicht aus den Augen verlor: Zum einen seine Familie – mit Winona, seiner Jugendliebe aus High-School-Zeiten, ist er seit 65 Jahren verheiratet; vier Kinder haben sie und zahlreiche Enkel. Und dann ist da sein christlicher Glaube – bis heute ist John jeden Sonntag in der Kirche zu finden; und in seiner Gemeinde oft genug auch unter der Woche. Und nicht zuletzt ist da seine große Gastfreundschaft – über viele Jahre waren John und Winona immer wieder Gasteltern für Austauschschüler aus aller Welt, mit einem davon war ich befreundet, und so begann auch unsere Freundschaft miteinander, Anfang der Siebziger.
Ein "Zuhause aus Menschlichkeit"
Am meisten hat mich an John über all die Jahre beeindruckt, wie er immer mit beiden Beinen auf dem Boden blieb. Bei allem Erfolg Realist war, nie das Gefühl für die eigenen Grenzen verlor. Er war Mitte Fünfzig, als er merkte, dass er nicht mehr ewig so weiterarbeiten könnte. Er spürte, wie endlich das war: Kraft, Erfolg, vor allem aber die eigene Lebenszeit. John nutzte die Chance und stieg aus. Eine gute Abfindung und eine passable Pension gaben ihm die Freiheit, sich von da an nur noch für andere einzusetzen. Nun engagierte er sich als Bewährungshelfer für Strafgefangene. Vor allem aber setzte er von da an seine Zeit, sein Organisationstalent und sein handwerkliches Geschick dafür ein, Menschen wieder zu einem Zuhause zu verhelfen. Mit anderen Freiwilligen baute John Jahr für Jahr neue Häuser für Menschen, denen das Schicksal das Dach über dem Kopf genommen hatte – mal durch Armut, mal durch einen Hurrikan. Habitat for Humanity heißt diese Initiative, ein "Zuhause aus Menschlichkeit".
Er hat damals nicht absehen können, wieviel Zeit ihm für das alles geschenkt wurde. In diesen Tagen konnte John mit vielen, für die er damit ein Segen geworden ist, seinen 90. Geburtstag feiern – herzlichen Glückwunsch, John!
Klug werden für andere
Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden[1]. Oder, wie es in einer wörtlichen Übersetzung dieses Psalmwortes heißt: "Unsere Tage zu zählen, das lehre uns, damit wir einbringen ein weises Herz." John hat diesen Vers aus dem 90. Psalm ernst genommen, auf sein Herz gehört und es geöffnet für das, was ihn sein Glauben lehren konnte; damals, als der entscheidende Lebensschritt für ihn an der Zeit war – der vom erfolgreichen Manager zum klugen Menschenfreund.
Auf dass wir klug werden. Unter diesem biblischen Motto sind in den letzten vier Tagen zahlreiche solcher Erfahrungen wie die von John zur Sprache gekommen in den vielen Veranstaltungen des 35. Deutschen Evangelischen Kirchentages, der weit über 100000 Menschen in Stuttgart zusammengeführt hat. Die politische Prominenz unseres Landes ist zu diesem großen Christentreffen genauso gekommen wie die vielen, die aus der Kultur und vor allem aus dem gelebten wie dem gut bedachten Glauben etwas zu dem beitragen können, was wir in unseren Tagen brauchen, um klug zu werden. Was sollte wirklich zählen? Wie können wir mit unseren Grenzen leben? Welche Möglichkeiten haben wir, damit es auch in Zukunft menschlich zugeht unter uns? Was können wir für den Frieden tun in dieser kriegs- und krisengeschüttelten Welt? Wie lässt sich eine Zuflucht schaffen für die Flüchtlinge, die ihr Leben zu uns retten und auf die Heimstatt unserer Mitmenschlichkeit angewiesen sind? Was müssen wir bedenken, was sollten wir uns lehren lassen von unserem Glauben, um achtsam mit solchen Lebensfragen umzugehen? Ich bin sicher, John hätte das, was sein Herz hat weise werden lassen, gut in das Treffen in Stuttgart einbringen können.
[1] Ps. 90,12