Das Wort zum Sonntag: "Aus der Seele gesprochen"
Pfarrer Stefan Claaß
15.10.2011 21:10

"Ich würde so gern noch mal einen Sonnenaufgang sehen!" sagt der Patient im Krankenhaus. Er liegt auf der Palliativstation. Dort, wo Menschen in ihrer letzten Lebensphase begleitet werden. Angenommen, Sie wären Pfleger oder Ärztin, was würden Sie ihm antworten? Der unmittelbare Impuls gibt uns ein: "Das klappt schon nochmal!" Oder: "Vielleicht kann Sie morgen früh jemand ans andere Flurfenster schieben." Vertröstungen und Ratschläge sind schnell zur Hand. Womöglich scheuen wir uns davor, es könnte zu persönlich werden. Vielleicht wünscht sich der Patient aber genau das: dass es persönlich wird?

Wenn ich meine Scheu überwinde, dann spüre ich ganz oft, dass hinter scheinbar sachlichen Sätzen viel mehr steckt. Ich traue mich zu fragen: "Wo war denn Ihr letzter Sonnenaufgang, erzählen Sie mal!" Dann höre ich Sätze vom wohligen Gefühl auf dem heimischen Balkon oder vom letzten Urlaub am Meer. Bilder von Sehnsucht oder Angst oder Hoffnung. Und der Patient spürt: Da interessiert sich jemand auch für meine Innenseite, für meine Seele.

Es braucht nicht immer große und lange Gespräche, oft genügt auch die richtige Geste. Auf der Palliativstation der Mainzer Uniklinik ist es selbstverständlich, dass bei der Visite das medizinische Team nicht um die Betten der Patienten herumsteht, sondern dass sich alle setzen. Sie sprechen dabei nicht über die Köpfe der Patienten hinweg, sondern mit ihnen. Das ist auch medizinisch sinnvoll. Ein bekanntes Experiment hat gezeigt, dass Schmerzmittel schneller und intensiver wirken, wenn Ärztin oder Arzt am Bett sitzen und erläutern, was geschieht.

Aber wir haben nicht nur eine Seele, wenn's ans Sterben geht. Auch vorher, mitten im Leben, ist es gut und heilsam, auf sie zu hören. In zahlreichen Interviews haben Patienten immer wieder gesagt, sie wünschen sich vor allem, dass sie nicht nur über ihre Krankheit, sondern auch über ihre seelischen Bedürfnisse reden können. Denn Gott hat drei Sprachen der Heilung geschenkt. Unser Körper spricht an auf Medikamente, unser Geist spricht an auf Erklärungen, unsere Seele spricht an auf Trost, auf Sorge. Leibsorge und Seelsorge gehören zusammen.

Dafür brauchen wir Zeit. "Zeit ist Geld!" heißt es aber an den Kliniken und in der Pflege und alle, die dort arbeiten, spüren den Druck, Zeit und Kosten zu sparen. Doch was nützt es, wenn wir Milliarden für Geräte und Medikamente ausgeben und dabei den Kontakt zu unserer Seele verlieren? Dieser Kontakt ist genauso heilsam, wenn wir selbst im Bett liegen. Der ist auch heilsam, wenn wir am Bett eines anderen sitzen. In Gesten und Worten können wir füreinander die Sonne aufgehen lassen.

Einen alten biblischen Segen möchte ich Ihnen mitgeben: Gott selbst, der Gott des Friedens, bewahre euch in eurem ganzen Wesen: mit Geist, Seele und Leib!

Sendeort und Mitwirkende

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