Das Wort zum Sonntag: "Warten"
Pastorin Nora Steen
17.12.2011 22:10

Neulich im ICE von Köln nach Hannover. Halt auf freier Strecke. Dann die Durchsage des Zugbegleiters: "Außerplanmäßiger Halt. Verehrte Reisende, wir bitten Sie um Geduld." Im Abteil liegt Anspannung in der Luft. Viele verdrehen die Augen und tippen hektisch eine SMS – die Bahn mal wieder. Von Geduld ist nichts zu spüren. Warten erscheint uns oft wie vertane Lebenszeit. Mir übrigens auch.

Nach einiger Zeit rollt der Zug wieder an. Kurz vor Hannover dann die Durchsage: "Ich freue mich Ihnen mitzuteilen, dass wir unsere Verspätung auf wenige Minuten reduzieren konnten – ich weiß, das ist immer noch schlimm. Denn jede Minute zählt." Viele müssen schmunzeln. Denn mit seiner charmanten Ansage hat er den Nagel auf den Kopf getroffen: "Ruhelos ist unser Herz", das sagte schon der Kirchenvater Augustinus vor rund 1600 Jahren. Viel scheint sich seitdem nicht geändert zu haben. Wir hetzen von hier nach dort und hassen es, zu warten.

Dabei besteht ja bei genauerem Hinsehen ein Großteil unseres Lebens aus Warten – im Kleinen wie im Großen: Mein Mann und ich zum Beispiel haben lange Zeit auf ein Kind gewartet – manchmal hatte ich das Gefühl, als ob das Leben an mir vorbei ziehen würde. Oft war ich nah dran, meine Hoffnung zu begraben, einfach weil ich das Warten nicht mehr ertragen konnte.

Jetzt, im Advent – der Zeit des Wartens und der Vorbereitung auf Weihnachten – will ich herausfinden, worin bei all der Unruhe der Schatz des Wartens liegen könnte.

Ich habe dabei erkannt: Warten ist gar nicht notwendig verlorene Zeit! Warten kann eine Zeit der inneren Vorbereitung sein. Im Advent trage ich ja schon die Vorstellung vom Weihnachtsfest in mir – obwohl es noch gar nicht da ist. Es ist also ein Warten auf etwas, eine Er-Wartung. Und diese Erwartung möchte ich voll und ganz auskosten. Und ich freue mich: Auf das "O du fröhliche" im Heiligabendgottesdienst und das kleine Kind in der Krippe, in dem mir Gott wieder ganz nah kommt.

Augustinus hat Recht: Auch mein Herz ist wirklich ruhelos. Aber in diesem Advent spüre ich, dass in dieser Unruhe des Wartens eine positive Energie verborgen ist. So ein Keim der Sehnsucht danach, dass das Leben noch mehr für mich vorgesehen hat als ich es momentan absehen kann. Der Satz von Augustin geht übrigens noch weiter: "Ruhelos ist unser Herz, bis es ruht in dir!" Und ich denke – ja, vielleicht ist das so. Unser ganzes Leben ist eine Art Advent – ein Warten auf das große Fest – wie auch immer ich mir das im Einzelnen vorstelle.

Das Schöne am Warten ist doch: Ich erwarte noch etwas vom Leben oder: von Gott. Meine große Hoffnung hat sich in diesem Jahr erfüllt: Uns wurde ein Kind geschenkt – vollkommen unverhofft. Im Rückblick merke ich, dass mich die Zeit des manchmal sehr resignierten Wartens darauf vorbereitet hat. Sie hat mich innerlich reifen lassen, und die späte Erfüllung des Wunsches noch wertvoller gemacht.

Auch im Alltag möchte ich den Schatz der im Warten geschenkten Zeit wieder mehr entdecken. Vor einigen Tagen stand ich im Stau auf der A7. Sofort kam diese Ungeduld wieder hoch. Ich erinnerte mich an meine Adventsstimmung, atmete ein paar Mal tief durch. Und sah auf einmal den wunderschönen Morgenhimmel über dem Feld neben der Autobahn. Mein Herz wurde ganz weit. Und ich dachte – der Zugbegleiter hatte Recht: Jede Minute zählt.

Sendeort und Mitwirkende

 

(NDR)
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