Das Wort zum Sonntag: "Die Zeit als Freund empfangen"
Pastor Gereon Alter
24.03.2012 21:25

"Worauf wartest du hier am Tor?" fragte der Prophet den Wachposten. "Auf den Feind!", entgegnete dieser. "Man muss jede Stunde auf ihn gefasst sein. Vielleicht sammelt er gerade seine Mannschaften, irgendwo hinter den Bergen. Vielleicht denkt er sich gerade eine Kriegslist aus, um uns zu überfallen, wenn wir nicht wachsam sind. Wenn ich die Schilde des Feindes in der Ferne blinken sehe oder das Lärmen der Waffen höre von den Bergen her, dann werde ich schreien, bis die ganze Stadt gerüstet ist, den Feind zu empfangen.

 

Der Prophet schwieg und schaute lange vor sich hin. – Dann sagte er: "Die Stadt ist gerüstet, den Feind zu empfangen. Mag sein. Aber ist sie auch gerüstet, einen Freund zu empfangen?" [i]

 

Mir ist diese kleine Geschichte von Khalil Gibran ziemlich unter die Haut gegangen. Denn auch ich hatte in den vergangenen Tagen ständig einen Feind im Visier: meinen Terminkalender. Kriege ich diesen oder jenen Termin noch unter? Habe ich auch alle darüber informiert? Was ist, wenn der oder die nicht kann? Können wir die Frist noch einmal verlängern? ... Überall Gefahr in Verzug!

Ist das nicht verrückt, dass uns die Zeit so im Griff haben kann? Dass wir uns manchmal nur noch im Takt des Uhrzeigers und Kalenders bewegen und gar nicht merken, wie sehr wir dabei selbst aus dem Takt geraten?

 

Dabei hat der Prophet doch recht: Ich kann die Zeit auch als Freund empfangen. Ich muss mich nicht von ihr treiben lassen wie von einem boshaften Feind. Ich kann sie auch annehmen wie einen, der es gut mit mir meint, der mir vielleicht sogar etwas schenkt.

In wenigen Stunden beginnt die Sommerzeit. Ich kann darüber klagen, dass sie mir eine Stunde raubt, dass mein Biorhythmus sich erstmal wieder anpassen muss, dass energietechnisch ja sowieso nichts bringt, dass der Aufwand viel größer ist als der Nutzen ... Ich kann mich aber auch darüber freuen, dass es abends wieder länger hell ist und auf der Terrasse sitzen kann, dass die Grillsaison beginnt, dass ich mehr Zeit mit meinen Freunden verbringen kann ...

Wie gehen Sie mit Ihrer Zeit um? Ist sie Ihnen Feind oder Freund? – Ich habe mir fest vorgenommen, sie mir wieder mehr zum Freund zu machen. Die kleine Zeitumstellung heute Nacht ist ein guter Anlass dafür. Morgen, wenn ich aufstehe, werde ich nicht gleich in den Kalender schauen und meine E-Mails checken, sondern erst einmal auf die Terrasse gehen, einen Kaffee trinken, mit Zeit für ein Morgengebet nehmen und den neuen Tag wie einen Freund begrüßen. Ich bin gespannt, was er mir alles bringt.

 

Vielleicht tut das ja auch Ihnen gut Ihre innere Uhr ein weinig umzustellen und wieder mehr Zeit zu haben für die schönen Dinge des Lebens. – Ich wünsche Ihnen auf jeden Fall einen entspannten Sonntag und viele freundliche Begegnungen in der neuen Woche!


[i] abgedruckt in: Lübking / Törner, Beim Wort genommen, Gütersloher Verlagshaus 2002.

Sendeort und Mitwirkende

Martin Blachmann (WDR)