Das Wort zum Sonntag: "Keine Gnade, no mercy!"
Pastorin Nora Steen
20.10.2012 22:25

Ich bin jetzt Mitte dreißig. Und ich frage mich manchmal, ob ich schon den (!) Fehler gemacht habe, der mir in 20, 30 Jahren alles zunichte machen kann. Als Pastorin bin ich eine öffentliche Person und wer weiß, ob auch ich irgendwann einmal einer gnadenlosen Meute ausgeliefert sein werde, die alle Ecken meiner Vergangenheit durchleuchtet und gegen mich verwendet. Ein kleines Beispiel: Wie verhalte ich mich, wenn ich nach einer Hochzeit eine Schachtel Pralinen als Dankeschön bekomme. Natürlich darf ich als Pastorin keine Geschenke annehmen. Eigentlich. Damit aber kränke ich die, die mir mit einer kleinen Aufmerksamkeit ihre Dankbarkeit zeigen wollen.

Vielleicht denken Sie jetzt: Um so einen Kleinkram geht es doch gar nicht. Wir müssen nur bei denen genau hinschauen, die im Rampenlicht stehen; die versucht sind, den Hals nicht voll genug zu bekommen. Ob es um Nebenverdienste, Doktortitel oder Urlaubsreisen zu Freunden geht. Nur die dürfen sich keinen Fehler in ihrem Leben leisten. Keinen Fehler, no mercy, keine Gnade.

Als damals in Jerusalem zu biblischer Zeit die Leute eine Ehebrecherin steinigen wollten – so war das Recht damals –, fragten sie Jesus, was zu tun sei. Jesus sagte nur diesen einen Satz: "Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein." Und einer nach dem anderen ging weg, ohne den Stein zu werfen.

Der erste Teil dieser Geschichte passiert heute mit schöner Regelmäßigkeit genauso wie damals – auf der politischen Bühne wird bei der kleinsten Verfehlung "gesteinigt". Die Folge: es wird  nach und nach leerer, weil es anscheinend kaum mehr jemanden gibt, der nicht irgendeine Sünde mit sich schleppt. Und wen bestimmte Medien oder das Netz dann am Schlawittchen haben, dem Gnade Gott. Wobei Gott gnädiger ist als die, die aus dem Fehler des Anderen Profit schlagen. Oft wird ja noch nicht einmal mehr gewartet, bis die Vorwürfe ordentlich geprüft werden können. Im Verurteilen sind wir schnell. Und diese Gnadenlosigkeit erschreckt mich. Wollen wir, Sie und ich, auch für unser Leben Maßstäbe, die ohne Ausnahme, ohne Berücksichtigung der Umstände gelten? Wer von uns ist denn wirklich noch niemals an etwas oder an jemandem schuldig geworden? Mir zumindest ist solch ein Mensch noch nicht begegnet.

Natürlich müssen Rechtsverstöße geahndet werden, keine Frage. Dafür haben wir eine Verfassung und Gesetze. Aber wenn es allen und jedem erlaubt ist, Einzelne nur aufgrund von Vermutungen öffentlich zu diffamieren, dann werden wir zu einer  un-menschlichen Gesellschaft. "Wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein" – dieser Satz sollte diejenigen erstmal bremsen, die bei solch öffentlichen Hetzjagden mitmachen.

Ich bin davon überzeugt: Wenn wir in Zukunft Persönlichkeiten haben wollen, die unser Land regieren und uns als Gesellschaft repräsentieren, müssen wir ihnen Schwächen zugestehen. Dann muss dieses alte christliche Wort "Gnade" wieder einen Platz haben. Wenn ein Fehler eingestanden und bereut wird, dann sollten wir verzeihen. Dann sollten wir die Größe haben, den Stein aus der Hand zu legen.

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