Das Wort zum Sonntag: "Ein heimatloser Aramäer"
Pfarrer Michael Broch
23.08.2014 22:35

Die Bilder von Krieg und Vertreibung gehen mir nicht mehr aus dem Kopf. Das unvorstellbare Leid der Kinder, Frauen und Männer in Palästina und Israel, im Sudan und in Nigeria, im Irak und in der Ukraine. Und ich denke an den grausamen Bürgerkrieg, der seit drei Jahren in Syrien tobt. Er hat die schlimmste Flüchtlingswelle seit Jahrzehnten ausgelöst.

 

Seit es Menschen gibt sind Menschen auf der Flucht. Das Thema Flucht zieht sich auch durch die ganze Bibel. So ist dort vor 3000 Jahren die Rede von einem "heimatlosen Aramäer" (Deuteronomium 26,5-7). Es dürfte sich um das heutige Syrien handeln. Was für eine traurige Doppelung der Ereignisse – 3000 Jahre später. Flucht und Vertreibung – ein zeitloses Phänomen, mit dem ich mich nicht abfinden kann und will.

 

Allein am vergangenen Wochenende hat die italienische Marine wieder fast 2000 Bootsflüchtlinge aus dem Mittelmeer gerettet. Letztes Jahr haben 43.000 Migranten die Küste Italiens erreicht. In diesem Jahr sind es bereits 100.000.

Heimatlos und auf der Flucht sein heißt damals wie heute: entwurzelt sein, fremd und schutzlos, eine ungewisse Zukunft vor Augen. Ich möchte mir nicht vorstellen, Flüchtling sein zu müssen: weit weg von zuhause, getrennt von meinen Lieben, alles verloren haben, die fremde Sprache nicht verstehen.

 

Zur Zeit sind weltweit mehr als 50 Millionen Menschen auf der Flucht. Mehr hat es seit dem Zweiten Weltkrieg noch nie gegeben. Europa hat gerade mal zwei Millionen Flüchtlinge aufgenommen. Alle anderen leben meistens in Entwicklungsländern (UNHCR). In Deutschland hat man sich mühsam dazu durchgerungen, 20.000 Flüchtlinge aus Syrien aufzunehmen. Auch in meinem Heimatkreis (Böblingen/Leonberg) sind die ersten modernen "heimatlosen Aramäer" angekommen. Diese Menschen haben Schlimmes erlebt. Sie besitzen noch das, was sie am Leib tragen. Doch eines haben sie auf der Flucht nicht verloren: ihre Würde und ihr Können.

 

Ich bin froh, dass sich in den Kirchengemeinden Freundskreise gebildet haben. Sie setzen sich dafür ein, dass die Flüchtlinge eine einigermaßen angemessene Wohnung erhalten. Und dass sie sich hier in der Fremde ein wenig zu Hause fühlen können.

 

Die modernen "heimatlosen Aramäer" sind glücklich, wenn ihnen jemand zuhört. Doch dazu bedarf es Frauen, Männer und Jugendlicher, die aus dem Englischen oder Französischen übersetzen können. Es gilt sie zu begleiten bei Ämtern und zum Arzt. Gerade Kinder benötigen oft eine psychologische Begleitung, weil sie traumatisiert sind. Die Eltern brauchen Hilfe, damit ihre Kinder möglichst bald einen Kindergartenplatz erhalten, die Jugendlichen zur Schule gehen. Damit die Erwachsenen Deutschkurse besuchen und Kontakt zu den Einheimischen bekommen. Und es ist wichtig, immer wieder nach ihnen zu schauen.

 

Die modernen "heimatlosen Aramäer" sind vor allem dankbar, wenn sie spüren: Wir sind keine Last, sondern Menschen, denen andere gerne beistehen. Wir sind nicht geduldet, sondern erwünscht. Wir sind nicht überflüssig, sondern gut aufgenommen.

 

Ich wünsche Ihnen einen guten Sonntag.

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