Vom Glück, gebraucht zu werden
Samstags nach den Tagesthemen im Ersten
02.08.2025 23:35

Warum haben Tausende von Freiwilligen bei der Flut im Ahrtal oder an der Oder spontan geholfen? Pfarrer Conrad Krannich aus Halle macht sich in seinem Wort zum Sonntag Gedanken über das Gefühl gebraucht zu werden und was es bedeutet, wenn man sich nutzlos fühlt. 

Sendetext nachlesen:

 

Ich war wieder mal segeln. Mit meiner Studierendengemeinde auf den Friesischen Seen in den Niederlanden. Jeden Sommer schippern wir da mit Segelbooten eine Woche lang von Hafen zu Hafen. Vierzehn Segelbegeisterte, vier Boote – bislang ist immer alles gut gegangen. In diesem Jahr war alles’n bisschen anders. 

Vollbepackt verlassen wir den Hafen in Langweer. Der Wind ist stark, die Böen unberechenbar – wir reffen die Segel, fahren mit stark verkleinerter Segelfläche.
Drei Boote schaffen es so über den See und passieren die erste Brücke. Aber ein Boot kommt und kommt nicht. So langsam mach ich mir Sorgen. 

Da klingelt mein Handy. "Conrad", sagt der Skipper, "die gute Nachricht: Es ist keiner verletzt. Die schlechte Nachricht: Wir sind gekentert."

Ein klassischer Segel-Fehler, wie sich später herausstellt: Großschot dicht, Patenthalse und das Boot liegt auf der Seite – so was darf eigentlich nicht passieren, bis es dann doch passiert, manchmal sogar den Besten.

Die drei Schiffbrüchigen werden von anderen Seglern aus dem Wasser gezogen. Stunden später stoßen sie zum Rest unserer Gruppe dazu, völlig erschöpft und klitschnass das Gepäck.

Und dann geschieht etwas Unerwartetes und eigentlich auch Selbstverständliches: Die Gruppe rückt zusammen. Kein Vorwurf, keine Diskussion über Schuld, nur Solidarität. Eine gibt ihre Jacke, der andere hat noch eine Decke, und drei Schlafplätze sind schnell gefunden. Und die Gruppe, die wirkt richtig beseelt. 

Als wir abends im Kerzenschein zusammensitzen, beschäftigt mich das sehr: wie leicht es hier war, füreinander da zu sein. Für mich sind das Momente, in denen ich den Glauben an die Menschheit wiedergewinne. Eigentlich gar nicht so selten:

Erinnern Sie sich noch an die Oderflut oder die Katastrophe im Ahrtal? Von so weit her kamen die Menschen, um zu helfen. 

Oder der Tag, als das Haus im Nachbardorf brannte. Alle haben die Familie danach beim Aufbau unterstützt. Die ganzen Konflikte plötzlich unwichtig; alle packen an. Es tut einfach richtig gut, gebraucht zu werden. Was für ein Hochgefühl, was tun zu können. Und wie schwer, wenn das irgendwann wegfällt. 

Mitmenschlichkeit ist ein Reflex. Kinder beherrschen das intuitiv. Die teilen ihr Essen mit Mama und mit dem Hund. Und dem Obdachlosen in der Fußgängerzone legen sie das angeknabberte Brötchen hin und verstehen gar nicht, wenn man sie davon abhalten will. Helfen ist uns tief eingeschrieben. Gott hat uns mit einem weiten Herzen geschaffen. Eigentlich … 

"Warum tun wir uns dann so sauschwer mit der Not irgendwo in der Welt", frage ich. 

"Die Kraft", antwortet eine Mitseglerin aus unserer Runde, "die Kraft liegt im Konkreten. Ich brauche einen Namen und ein Gesicht, eine Geschichte und irgendeine Verbindung." 

So ist es. Das Konkrete lässt mich handeln; die bloße Nachricht mit Zahlen schafft das nicht. Wer helfen will, muss sehen, dass da ein Mensch ist, wie du und ich. Deshalb beginnen Kriege lange vor dem ersten Schuss, und zwar damit, dass man sich nicht mehr ansieht. Das führen uns die Kriegsschauplätze in aller Welt auf so abgründige Weise vor Augen. 

"Und wo ist mein Platz, um zu helfen, wenn wir hier fertig sind", fragt eine Studentin aus unserer Runde. "Dein Platz findet dich", sagt eine andere. "Und dass es der richtige Platz ist, das merkst du daran, dass es wirklich um Menschen geht."

Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht und, dass der Platz Sie findet, wo Sie was tun können.
 

Sendungen von Pfarrer Conrad Krannich