Morgenandacht
Grenzen
02.06.2015 06:35

"Damit wir klug werden" – das ist das Motto des Evangelischen Kirchentages in dieser Woche in Stuttgart. Es findet sich im 90. Psalm, im Gebetbuch der Bibel, wo es heißt: "Unsere Tage zu zählen, lehre uns, damit wir ein weises Herz gewinnen" (Ps. 90,12; Zürcher Bibel). Mich lässt dieser Satz über Begrenzungen nachdenken: Unsere Grenzen lehre uns bedenken; das wäre klug.

 

Grenzen haben zwei Seiten: vor und hinter der Grenze, diesseits und jenseits. Auch im Erleben von Grenzen gibt es unterschiedliche Seiten: Die einen sind froh, dass es Grenzen gibt. Innerhalb der Grenzen fühlen sie sich zu Hause, und was jenseits der Grenze liegt, erscheint ihnen unübersichtlich und würde sie unsicher machen. Andere sehen umgekehrt die Grenze nur als ärgerliches Hindernis an, als Einschränkung der Freiheit: Da stoßen wir schon wieder an eine Grenze! Nicht nur auf einer Reise oder auf der Flucht stellen sich Grenzen in den Weg, sondern auch im übertragenen Sinn erfahren Menschen Grenzen und müssen damit umgehen.

 

Unsere Grenzen zu bedenken, lehre uns; das wäre klug.

 

Ich merke: Ich komme mit meinen Kräften an eine Grenze.

Ärzte stoßen mit den Möglichkeiten der Medizin an ihre Grenzen.

Ich spüre die Grenzen, die das Alter setzt.

Für ein Treffen steht nur eine begrenzte Zeit zur Verfügung.

Ich stoße an die Grenzen meines Verstehens.

 

Oft will ich solche Grenzen nicht wahrhaben; ich ärgere mich und kämpfe dagegen an. Ich will nicht sehen, dass Grenzen auch etwas Heilsames haben. In einem Gebet lese ich:

 

"Gott, ich bitte dich,

dass ich meine Grenzen erkenne,

damit ich mich nicht überschätze und übernehme,

damit ich nicht alles allein tun will,

damit ich Aufgaben abgeben kann

und mich nicht für unersetzlich halte.

Ich danke dir, dass du, Gott, es bist,

der meine Grenzen zieht,

nicht das Schicksal, nicht die Natur.

Ich danke dir, dass du mich

zu einem begrenzten Geschöpf gemacht hast."

 

Das ist die eine Seite, aber es gibt noch einen anderen Blick auf Begrenzungen: Dann geht es mir so, dass ich wie verbohrt nur auf die Wand vor mir starre, auf die Mauer, die den ins Auge gefassten Weg im Leben versperrt. Der Blick ist fixiert auf den einen Punkt, an dem es nicht mehr weitergeht. Vielleicht gelingt es aber doch, dass ich die Blickrichtung verschiebe und eine neue Perspektive erkennbar wird.

 

Von einem Mann, der in einem Land mit einer hohen Mauer lebt, habe ich den Satz gelesen: "Der Himmel und nicht die Mauer soll die Grenze des Denkens und der Kreativität sein." Mitri Raheb, evangelischer Pfarrer in Bethlehem, spricht von der Situation in seinem Land, von der Mauer, die Israelis und Palästinenser trennt und Begegnung verhindert. Er will mehr sehen als nur die Mauer. Wenn Mauern zu hoch sind und Grenzen bestehen bleiben, ist da immer noch die Weite des Himmels. Sie lässt von Möglichkeiten träumen, die noch verborgen sind, und setzt neue Energien frei. Das Denken ist nicht verboten.

 

"Der Himmel und nicht die Mauer soll die Grenze des Denkens und der Kreativität sein." Das ist Hoffnungsperspektive für die Menschen in Bethlehem genauso wie für unsere persönlichen Grenzerfahrungen: Was unser Denken und Tun bestimmen soll, sind nicht Mauern und Grenzen, nicht das Brett vor dem Kopf und nicht das Gefühl, am Ende angelangt zu sein. Der Blick kann sich weiten nach oben, zum Himmel, zu Gott. Ich schöpfe Kraft aus dem Vertrauen, dass Gott niemanden allein an der Grenze stehen lässt. Er trägt uns Menschen mit unseren Einschränkungen, in unseren Begrenzungen.

 

 

Das Gebet zum Thema Grenzen stammt von Helmut Gollwitzer

Sendungen von Peter Oßenkop

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