Auf Tuchfühlung mit den Toten
Pastor Gereon Alter
13.11.2010 21:25

Auf Tuchfühlung mit den Toten

 

Erkennen Sie mich wieder? – Das Bild ist auf einer Reise durch Madagaskar entstanden. Ich war mit dem Fahrrad unterwegs. Das ist meine Art des Reisens. Möglichst nah an den Menschen und ihrem Lebensalltag. Schon nach wenigen Tagen auf dem Rad bin ich dieser Familie begegnet. Ein kurzer freundlicher Wortwechsel, und ich war eingeladen: nicht nur zu einer Übernachtung, sondern auch zu einer Famadihana. Das ist das wichtigste Fest der Madegassen, eine feierliche Totenumbettung.

Die Toten werden bei diesem Fest aus ihren Grabhäusern heraus geholt. Hier sehen Sie diesen Augenblick. Die Gebeine sind nur in dünne Tücher gehüllt und werden mit Hilfe einer Bastmatte aus dem Grabhaus heraus geholt. Kaum haben die Angehörigen ihre Verstorbenen wieder in Händen, bricht ein lauter Jubel aus. Es wird gelacht, gesungen und getanzt. Dann folgen stillere Momente. Die Toten werden auf den Boden gelegt und die Lebenden kümmern sich um sie. Sie rücken ihre Gebeine zurecht, reinigen ihre Leichentücher, legen ihnen neue an. Und vor allem: sie sprechen mit ihnen. Sie erzählen ihnen, was alles geschehen ist, seit sie fortgegangen sind. Wer mit wem verheiratet ist. Welche Kinder geboren wurden. Wer krank war und wieder genesen ist. Über viele Stunden geht das so. Und erst wenn wirklich alles erzählt ist, werden die Toten wieder zurück ins Grabhaus gebracht. Dort bleiben sie, bis etwa fünf bis sieben Jahre später wieder eine Famadihana ist.

Warum erzähle ich Ihnen von diesem seltsamen Ritual? – Weil ich es faszinierend finde, wie unbefangen und natürlich diese Menschen mit ihren Toten umgehen. Da ist keine Berührungsangst zu spüren. Im Gegenteil: eine große Lebendigkeit. Mich hat das ins Nachdenken gebracht über unseren Umgang mit den Toten – wenn es ihn den überhaupt noch gibt. Denn das Meiste tut ja der Bestatter und später dann der Friedhofsgärtner. Oder wissen Sie noch wie das ist, wenn ein Mensch seinen letzten Atemzug tut? Und wie es sich anfühlt, wenn man ihm die Augen schließt? Wenn man ihn wäscht und ihm sein letztes Hemd anzieht? Das haben wir an Fachleute abgegeben. Und bleiben zurück mit einer großen Scheu und Hilflosigkeit. Zumindest erleb ich das ganz häufig, wenn ich mit Angehörigen eines Verstorbenen zu tun habe.

Es gibt allerdings auch Menschen, die sich gerade deshalb wieder bewusst für einen persönlichen Abschied entscheiden. Erst kürzlich noch hat mir eine ältere Dame erzählt, dass sie nicht sofort zum Telefon gegriffen hat, als ihr Mann verstorben war. Sie hat ihn in seinem Bett liegen lassen und sich eine ganze Weile zu ihm gesetzt. Später sind die Kinder gekommen und haben ebenfalls in aller Ruhe Abschied genommen. Und erst dann haben sie den Arzt und den Bestatter informiert. – Eltern entdecken wieder neu, wie wichtig es auch für Kinder ist, Abschied von ihrer Oma oder ihrem Opa zu nehmen. Sie nehmen sie selbstverständlich mit zur Beerdigung und erklären ihnen, was da geschieht.

Ein Jugendlicher schreibt einen langen Brief und legt ihn seinem Vater in die Hand. Ein Vater trägt den Sarg seines Kindes. Wieder ein anderer schaufelt das Grab selbst zu. – Es gibt so viele Möglichkeiten, lebendig Abschied zu nehmen. Und es gibt Bestatter und Pfarrer, die durchaus offen dafür sind.

Denken Sie doch einmal darüber nach, wie Sie gerne Abschied nehmen möchten von einem Menschen, der Ihnen nahe steht. Was Ihnen gut tun würde. Und was ihnen helfen könnte, ihn in Frieden gehen zu lassen.

Ich wünsche Ihnen einen gesegneten Sonntag.

Sendeort und Mitwirkende

Redaktion: Martin Blachmann (WDR)