Gottesdienst
Man lebt nur einmal
Gottesdienst aus der St. Ansgarii-Kirche in Bremen-Schwachhausen
20.09.2015 10:05

„Wärst du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben“. Verzweifelt klingt der Vorwurf, den Maria Jesus entgegenschleudert. Ihr Bruder Lazarus war krank. Sterbenskrank. Man hatte Jesus eine Nachricht geschickt, damit er kommt. Doch er kommt zu spät. Erst vier Tage nach dem Tod des Lazarus. Vier Tage! Dabei ist der Weg nach Bethanien nur eine halbe Stunde weit. Wertvolle Zeit ist verstrichen. Und in dieser Zeit hat der Tod gewonnen. Niemand konnte Lazarus noch helfen. Seine Krankheit hat ihm das Leben genommen. Seine Angehörigen haben ihn begraben. Es ist alles so gekommen, wie sie es befürchtet haben. Dabei war Jesus nur eine halbe Stunde entfernt. Und er ist nicht gekommen. „Wärst du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben“.

 

Bitter klingt der Vorwurf. Enttäuscht. Lazarus war doch ein lieber Freund. Da lässt man doch alles stehen und liegen und kümmert sich. Da lässt man sich doch keine Zeit. Martha ist so enttäuscht, dass sie Jesus den Tod ihres Bruders zur Last legt. Ist er an seiner Krankheit gestorben oder daran, dass der Freund seine Liebe verraten hat und nicht da war als er hätte da sein müssen? Hilflos und zornig steht Martha vor ihm und ballt die Fäuste. Der Tod ihres Bruders ist nicht hinnehmbar. Nein. Er soll nicht sein. Und da kommt Jesus nun aber doch gerade recht. Da kommt einer, über dem man die ganze Wut und Verzweiflung ausschütten kann. Das muss er jetzt hören. Das muss er aushalten: „Wärst du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben“.

 

 

Ein kleiner Körper liegt am Strand. Er trägt ein rotes T-Shirt. Ganz allein liegt er da am Wassersaum. Er ist in der Nacht angespült worden und liegengeblieben. Da hat er schon nicht mehr gelebt. Der kleine Aylan ist mit seiner Familie in einem Boot bei der Flucht über das Mittelmeer gekentert.

Sein großer Bruder, seine Mutter und er selbst verloren dabei ihr Leben. Sein Vater überlebt als Einziger das Unglück. Das Bild von dem kleinen toten Jungen ging um die Welt. Immer wieder und wieder möchte man hoffen, dass doch noch Leben in dem kleinen Körper sei.

„Wärst du hier gewesen, er wäre nicht gestorben“. möchte man Gott zuschreien. Und sicher tun das auch viele. So viel Leid, soviel Tod, soviel ungelebtes Leben. Und so viel Wut und Verzweiflung. Nicht erst hier sondern schon so oft seit Martha damals Jesus angeklagt hat. „Du warst nicht da. Dann wäre es anders gekommen“.

Wäre doch jemand da gewesen um zu helfen. Hätte doch jemand dieses Unglück abwenden können. Wer das Bild von dem kleinen Jungen sieht, kann wohl kaum anders, als so zu denken. (Ich weiß allerdings, dass es Leute gibt, die anders darauf reagieren).

 

 

Martha ist enttäuscht. Aber sie hat immer noch Hoffnung. Sie hat eine klare Erwartung an Jesus. „Du kannst Gott bitten, was Du willst. Er wird es dir geben“.

Das ist ein eindeutiger Auftrag. Sie sagt nicht direkt, was er tun und bitten soll, aber der Zusammenhang legt es nahe: Wenn Jesus in enger Verbindung zu Gott steht... und wenn Gott der Herr über Leben und Tod ist, dann ist hier noch Spielraum. Dann kann noch etwas geschehen. Dann muss der Tod nicht einfach hingenommen werden. Dann kann noch verhandelt werden. Sie weiß vielleicht gar nicht genau, was sie sich erhofft. Aber da ist etwas in ihr, eine irrwitzige Hoffnung auf irgendetwas. Und das ist nicht das, das Jesus ihr zusagt: Dein Bruder wird auferstehen. Das weiß sie und glaubt sie ja sowieso. Dass er irgendwann am Ende aller Tage auferstehen wird. Ihr geht es um das Heute und das Jetzt. Jetzt tut sein Tod weh. Jetzt fehlt er. Jetzt zerreißt es ihr das Herz. Und jetzt steht Jesus vor ihr. Jetzt.

 

 

„Jetzt wollen wir leben. Wir haben nichts getan. Nichts Schlimmes. Wir wollen doch nur leben. Jetzt“. So haben es zwei syrische Flüchtlinge gesagt, die Reporter in Ungarn interviewt haben. Jeder Mensch hat nur ein Leben. Dieses eine und eigene Leben. Und dieses Leben soll gut sein. Es soll lebenswert sein. Es soll für einen Menschen selbst und für andere gut sein. Keiner kann abwarten, bis ein anderes Leben kommt. Es gibt nur dieses eine.

Und das ist es wohl, was Menschen in die Flucht treibt. Viele wollen weg von dem, was ihnen Angst macht, was sie bedroht und ihnen alle Hoffnung nimmt. Aber – es wollen auch alle irgendwo hin. Dahin, wo es besser ist. Dahin, wo man leben kann. Arbeiten, wohnen, zur Schule gehen. Ohne Angst auf der Straße sein, essen und trinken, Freunde und Familie haben. Sicherheit. Und Zukunft. Darum geben manche ihr Leben auf. Um leben zu können. Sie lassen ihr altes Leben hinter sich und fliehen in ein neues. Damit dieses eine Leben, das sie haben, ein Leben ist, das lebenswert ist.

Manche können das nicht verstehen. Sie sagen: die nehmen uns unser gewohntes Leben weg. Wenn sie kommen, dann müssen wir uns verändern. Wir müssen Platz machen. Manche haben Angst, selbst zu verlieren. Und sie sagen: Jeder hat sein Schicksal und jeder hat sein Zuhause. Daran kann man nichts ändern. Und unser Leben soll bleiben wie es ist.

Aber jeder Mensch hat nur dieses eine Leben. Und darin möchte er aufstehen können und gehen, wohin er will. Jetzt.

 

 

Martha sieht Jesus an. Sie wartet auf eine Antwort. Er sagt: „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt; und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben. Glaubst du das? Sie spricht zu ihm: Ja, Herr, ich glaube, dass du der Christus bist, der Sohn Gottes, der in die Welt gekommen ist“.

Was glaubt Maria eigentlich, wen sie da vor sich hat? Du bist der Sohn Gottes, sagt sie zu ihm. Und er nennt sich „Auferstehung“ und „Leben“. Ich verkörpere all das, was Du Dir erhoffst. Für Dich und für deinen Bruder Lazarus. Ich bin da. Jetzt.

Du warst enttäuscht, weil ich nicht zur rechten Zeit am rechten Ort war. Aber wo ich bin, ist die rechte Zeit und der rechte Ort. „Ich bin die Auferstehung und das Leben.“

Und dann ruft Jesus Lazarus aus dem Grab. „Komm heraus!“. Und er kommt heraus. Aufrecht. Mit Grabtüchern umwickelt. Und die, die dort warten, sahen, wie er seiner Wege geht. Viele stehen dabei und schauen zu. Etwas Unglaubliches ist geschehen. Zum Glauben unglaublich. Aber Martha, was ging in ihr vor? Davon erzählt die Geschichte nicht mehr.

Ihr ging es um das Leben. Hier und jetzt. Und um die Liebe, die sichtbar werden soll. Durch Anwesenheit. Durch Da-Sein. Und es ging ihr um ihren Bruder, dessen Leben zu Ende gegangen war und der nun eine zweite Chance bekam. „Sie lösten seine Binden und ließen ihn gehen“.

Martha hat ihm wohl nachgesehen mit den anderen. Vielleicht ist sie auch mitgegangen mit ihm. Vielleicht hat sie diesen Moment auch noch etwas ausgekostet. Neben dem zu stehen, der von sich sagt: „Ich bin die Auferstehung und das Leben“ und der es möglich macht, dass jemand aufsteht und geht, wohin er will.

 

 

Jemand hat den kleinen Körper aufgehoben und trägt ihn weg. In gebückter Haltung geht der Soldat, der ihn hält, über den Sand. Die kleinen Beine hängen herunter. Zu spät kommen die Helfer. Dieses Kind bekommt keine zweite Chance. Kein neues Leben in Sicherheit. Es ist inzwischen in seiner Heimat beerdigt worden.

Wo ist der, der gesagt hat: ich bin die Auferstehung und das Leben“. Er hat dem Lazarus ein neues Leben geschenkt. Eine zweite Möglichkeit. Es hat ganz leicht gewirkt. „Steh auf, Aylan“, möchte man auch dem kleinen Jungen zurufen. Was hilft es, dass Lazarus damals ein zweites Mal leben konnte. wenn so viele diese Chance nicht bekommen?

Aber auch die Geschichte von Lazarus und Jesus und von Martha und den anderen ist an dieser Stelle noch nicht zu Ende. Sie ist der Auftakt für das Sterben Jesu. Für seinen Weg an das Kreuz. Dass Menschen dieses eine kostbare Leben, das sie haben, jetzt und hier leben sollen, dafür ist er gestorben. Dass das Leben unendlich viel wert ist, und zwar Jedes, dafür hat er sich gegeben. Dass niemand festgelegt werden darf auf die Umstände seines Lebens, dass er sich neu ausrichten darf, das hat er bezeugt.

Wie so viele, die auf der Suche sind und für sich und ihre Familien einen neuen Anfang wagen und darauf hoffen, dass sie auf Menschen treffen, die das verstehen, helfen und die keine Unterschiede machen, hat er sich auf seinen hoffnungsvollen und schwierigen Weg eingelassen. Und er hat davon gesprochen, dass man sein Leben gleichzeitig verlieren und gewinnen kann. So wie er selbst am Kreuz damals auf Golgatha. Heute, jetzt, in Liebe. Da-Sein.

Damit wird kein Tod rückgängig gemacht. Aber so wird das Leben gelebt. „Wer an mich glaubt“, sagt Jesus, „der wird leben, auch wenn er stirbt“. Amen.