Evangelischer Rundfunkgottesdienst
Bild: Gemeinde Gols
Weihnachten und verkehrte Welt
Evangelischer Rundfunkgottesdienst aus Gols im Burgenland
26.12.2017 09:05
Predigt zum Nachlesen
 

Liebe Gemeinde,

in Wien wird derzeit das Parlament renoviert. Das ehrwürdige Gebäude an der Ringstraße ist in die Jahre gekommen. Es ist auch schon mehr als hundert und zwanzig Jahre alt. Ungefähr gleich alt wie das Reichstagsgebäude in Berlin, das vor zwanzig Jahren erneuert und ausgebaut wurde. Solche Parlamentsgebäude sind sichtbare Zeichen der Demokratie, auf die wir wohl zurecht stolz sein können. Aber es gibt auch ein „Parlament der Unsichtbaren“. Das wurde vor einigen Jahren in Paris von dem Sozialhistoriker Pierre Rosanvallon gegründet. Das Parlament der Unsichtbaren ist ein Ort, wo Geschichten erzählt werden. Geschichten von Menschen, die sonst im Dunkeln geblieben wären. Menschen, die man nicht sieht, von denen man nichts weiß und auf die niemand hört. Unsichtbare eben. Etwa Anneliese mit ihrer Mindestpension. Sie schlägt sich mehr schlecht als recht durch. Der arbeitslose Kurt und Lisa, die mit Krankheit und dem Alltag als alleinerziehende Mutter zu kämpfen hat. Unsere Demokratie, so meint Pierre Rosanvallon, bleibt unvollständig, wenn die Unsichtbaren nicht gesehen werden, wenn ihre Geschichten nicht gehört werden. Denn wer nicht wahrgenommen wird, bleibt ausgeschlossen.

 

An dieses Parlament der Unsichtbaren musste ich denken, als ich die große Vision des Johannes gelesen habe. Johannes konnte noch nichts wissen von Demokratie und Parlamenten, er lebte in einer völlig anderen Zeit. Deshalb sieht er nicht einen Nationalrat oder einen Bundestag, wie sie im österreichischen Parlament oder im deutschen Reichstagsgebäude zusammentreten. Er sieht einen königlichen Thronsaal und alle sind da, die dazugehören. Die dienstbaren Geister, die Engel, die vierundzwanzig Ältesten als die höchsten Repräsentanten und der Herr selbst, der auf dem Thron sitzt. Aber – und das ist der große Unterschied – die Unsichtbaren sind auch da. Mit ihnen hat man wohl nicht gerechnet. Deshalb fragt einer: Wer sind diese, die mit den weißen Kleidern angetan sind, und woher sind sie gekommen? Die Antwort: Sie kommen aus der großen Trübsal. Die große Trübsal – so nannte man eine Zeit der Verfolgung der Christinnen und Christen am Ende des ersten Jahrhunderts in Kleinasien. In dieser Zeit schreibt Johannes seine Offenbarung. Die Opfer dieser Verfolgung stehen rund um den Thron. Sie sind sichtbar. Ihre Geschichte ist gehört worden. Ihre Stimme darf im Chor aus allen Nationen, Stämmen, Völkern und Sprachen nicht fehlen. Gott hat ihre Tränen abgewischt. Bis heute werden Christinnen und Christen in zahlreichen Ländern ausgegrenzt, angefeindet und verfolgt. Viele zahlen für ihren Glauben mit dem Leben. Daran denken wir heute, am Tag des Stephanus, der der erste Märtyrer gewesen ist. In Gottes neuer Welt bekommen die Unsichtbaren einen Ehrenplatz. Ganz vorne stehen sie. In der Mitte.

 

 

Weihnachten – eine verkehrte Welt! Mitten in der Nacht bricht das Licht hervor. Mitten im kalten Winter beginnt es zu blühen. Plötzlich geben die Kinder den Ton an. Das Hamsterrad der Leistungsgesellschaft dreht sich leer, wenigstens für ein paar Tage. Was du dir wünschst, das bekommst du geschenkt. Einfach so. Gott kommt zur Welt und wird in einem Stall geboren als das Kind armer Leute. Und ausgerechnet dieses Armeleutekind ist der von alters her verheißene Friedefürst. Dazu gehört auch, dass die Unsichtbaren mitten im Zentrum stehen. Ganz nahe beim Thron. Auf sie kommt es genauso an wie auf alle Engel und auf die vierundzwanzig Ältesten und die geheimnisvollen Wesen, die da erwähnt werden. Gott will nicht gelobt, Gott kann gar nicht gelobt werden, wenn die, die bisher am Rand gestanden sind, nicht dabei sind.

 

Das schärft unseren Blick, damit wir heute genau hinsehen. Wie ist das bei uns? Sind die dabei, die normalerweise an den Rand gedrängt werden? Kommen die zu Wort, über die normalerweise einfach so hinweggegangen wird? Kommen die ans Licht, die normalerweise im Schatten stehen? Werden die Hände von denen gefüllt, denen nichts geschenkt wird im Leben? Anneliese mit ihrer Mindestpension. Der arbeitslose Kurt, den niemand mehr brauchen kann. Die alleinerziehende Lisa, die auf die Mindestsicherung angewiesen ist.

 

Ja, Weihnachten ist eine verkehrte Welt. Wird sie auf den Kopf gestellt? Ich denke, genau das Gegenteil ist der Fall: Endlich steht die Welt richtig da, fest auf der Erde, fest auf beiden Beinen. So ist sie richtig, so ist sie gerecht.

 

Johannes sieht den himmlischen Thronsaal. Er sieht ihn nicht erst in der Zukunft, er sieht ihn schon hier und jetzt. Im Stall von Bethlehem. Die Krippe ist der Thron. Der Stall das Schloss. Maria und Josef und die Hirten, die unsichtbaren kleinen Leute, sie stehen plötzlich unter dem himmlischen Licht und hören die Botschaft der Engel. Sie zuerst. Es ist ein neuer, ein völlig neuer Blick auf die Verhältnisse. Es ist der Blick von Weihnachten.

 

Er legt nichts und niemanden fest auf das, was jetzt da ist. Die Geschichten von Anneliese, Kurt und Lisa haben uns etwas zu sagen. Und jeder, jede kann einen wichtigen Beitrag geben. Der Blick von Weihnachten sieht die Potentiale, die Möglichkeiten, die Zukunftschancen. So wie Johannes nicht einfach einen armseligen Stall sieht, sondern in diesem Stall schon den himmlischen Thronsaal. Unser Glaube hält die Welt, hält die Menschen in den Möglichkeitsraum Gottes. Johannes sieht schon, was noch nicht ist, aber was möglich ist, weil es Gott selbst versprochen hat.

 

 

Mitten in dieser Szenerie rund um den Thron steht ein Lamm. Das Opferlamm, das uns daran erinnert, dass womöglich auch unser Leben immer wieder Opfer von anderen verlangt, immer wieder auf Kosten von anderem Leben gelebt wird. Ist das ein Naturgesetz? Muss das immer so sein? Das Lamm beim Thron zeigt, dass das überwunden ist. Leben muss nicht auf Kosten anderen Lebens gehen. Der Stärkere muss sich nicht auf Kosten der Schwächeren durchsetzen. Es gibt auch eine Hingabe zugunsten der Schwachen. Jesus, das Lamm, hat uns doch gezeigt, wie das geht. Was ihr dem Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan, sagt er.

 

Ausgerechnet dieses Lamm wird zum Hirten! Es wird die Unsichtbaren, die sichtbar geworden sind, weiden und zu den Quellen lebendigen Wassers führen. Was für ein wunderschöner Gedanke! Ein Lamm als Hirte! Schon wieder die verkehrte, nein, nicht die verkehrte, die richtig gemachte Welt! Dieses Lamm lädt uns ein: Kommt, und folgt mir zu den Quellen des lebendigen Wassers. Ich, das Lamm, ich, das Kind von Bethlehem, ich zeige euch den Weg. Ich richte eure Füße auf den Weg des Friedens und schenke euch das Leben in Fülle.

 

Das Lamm ist der Hirte. Der Stall ein Palast. Die Krippe der Thron. Das Kind von Bethlehem der Erlöser. Und alle Engel singen.

 

Amen

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

 

 

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