Im Zeichen des Gekreuzigten
Ein Kreuz ist das Symbol für das Christentum. So, wie der Halbmond für den Islam und der Davidsstern für das Judentum.
Ein Kreuz – nicht ein Pluszeichen. Im Gegenteil. Eher ein Minus-Zeichen. Wenn einer am Kreuz hängt, dann ist er fertig. Am Ende. In der Antike wurden Menschen zur Abschreckung für andere hingerichtet an solchen Kreuzen. So wie Jesus Christus, von dem die Christen ihren Namen haben.
In jeder Kirche hängen Kreuze, manchmal mit dem sterbenden Jesus daran: ein blutender, zerschundener, hilfloser Mensch.
Wie kann man nur, fragen viele. So ein grausames Bild – was ist das für ein Glauben! Viele Muslime sagen: Wie kann der Gottes Sohn sein. Gott ist allmächtig und stark und prächtig. Nur so kann er ein Schutz sein für die Gläubigen.
Ich als Christin dagegen glaube: Genau so hat sich Gott gezeigt. In diesem Menschen Jesus, der am Ende von vielen verspottet und verachtet wurde, der verfolgt und hingerichtet wurde. Ohnmächtig und den Menschen ausgeliefert. Auch so hat sich Gott gezeigt.
Der gekreuzigte Gott ist den Menschen nahe
Es gibt ein Buch von Eric Emanuel Schmitt, „Oskar und die Dame in Rosa“. Es handelt von einem 10jährigen Jungen, der an einer schweren Krankheit leidet. Er wird sterben müssen. Aber niemand traut sich, mit ihm vom Sterben zu reden. Und also kann ihn auch keiner trösten. Denn wo man nicht reden kann, da kann man auch nicht trösten. Nur die Dame in Rosa, eine Krankenschwester vielleicht, vielleicht auch eine Art Engel, das bleibt offen – die redet mit ihm.
Eines Tages geht die Dame in Rosa mit Oskar in die Krankenhauskapelle. Dort sieht er den Gekreuzigten. Oskar ist außer sich: Er schreibt einen Brief an den lieben Gott. „Das hat mich an mich selbst erinnert,“ schreibt er. „Ich war empört. Wäre ich der liebe Gott wie du, ich hätte mir das nicht gefallen lassen.“
„So einem werden sie doch nicht vertrauen?“ fragt Oskar deshalb am nächsten Tag die Dame in Rosa. Und die fragt zurück: „Warum nicht, Oskar? Würdest du dich eher einem Gott anvertrauen, wenn du einen Bodybuilder vor dir hättest, mit prallen Muskeln, eingeölter Haut, kahl geschoren und im vorteilhaften Tanga? Wem fühlst Du dich näher, Oskar, einem Gott, der nichts fühlt oder einem, der Schmerzen hat?“ (E.M. Schmitt, Oskar und die Dame in Rosa, Zürich 2003, S. 63ff)
Viele Menschen finden: Genauso tröstet mich Gott. Deshalb hängen sie Kreuze auf. Dieser Gott, der da mit Jesus am Kreuz hängt. Der tröstet mich, wenn es mir selber schlecht geht und ich am Ende bin. Die Welt ist ja nicht das Paradies und ich habe nicht nur gute Stunden.
Gott verlässt die Leidenden nicht
Deshalb hat man genau diesen leidenden, sterbenden Christus am Kreuz in den Krankenhäusern des Mittelalters aufgehängt. Deshalb hängen bis heute Kreuze in vielen Krankenzimmern. Die Leidenden und Sterbenden, die Armen und Verlassenen vergewissern sich: Gott verlässt keinen, dem es so geht wie mir. Die Ohnmächtigen vergewissern sich: Gott ist einer von uns. Er ist eben nicht ein muskelbepackter Held, wie die griechischen Statuen ihre Götter dargestellt hatten. Nicht einer, der sich abwendet von denen, die nicht so stark und so tüchtig sind. Gott selbst ist da, wo Menschen leiden. Er ist gerade für die da, die sonst kaum noch etwas haben. Die müssen nicht meinen: Nun hat mich auch Gott verlassen, weil ich mir selbst nicht helfen kann.
„Ein Arzt ist für die Kranken da“, hat Jesus zu seinen Lebzeiten gesagt, „nicht für die Gesunden“ (Lk 5, 31) Ich glaube deshalb: So ist Gott. Er lässt die nicht fallen, die in Not geraten sind. Er ist immer noch da, auch wenn sich alle anderen von mir abwenden.
Und er bleibt da, auch über den Tod hinaus. Er hält mich fest in seiner Hand. Auch daran erinnert mich das Kreuz.