Morgenandacht
Baustellen
02.08.2021 06:35

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Vor vier Wochen war ich beim Zahnarzt, obwohl mir gar nichts weh getan hat. Ich gehe einfach einmal im Jahr hin, vorsichtshalber. Und wie immer seit Jahren hat der Zahnarzt nichts gefunden und mir zu meinen gesunden Zähnen gratuliert.

„Gott sei Dank!“, hab ich geantwortet, „noch eine Baustelle, das hätte mir noch gefehlt. Ich hab doch schon so viele.“ Da habe ich gemerkt, dass mein Zahnarzt auch ein guter Seelsorger wäre. „So müssen Sie nicht denken“, hat er mir mit auf den Weg gegeben. “Sie müssen nicht immer an ihre Baustellen denken. Sie sollten froh sein über jede Baustelle, die sie nicht haben!“ Die wenigen Sätze gehen bis heute mit mir.

Seien Sie froh über jede Baustelle, die sie nicht haben. Er hat ja recht, denke ich mir seither. Es fällt mir viel leichter, zu sehen, was fehlt und was nicht gut geht: Der Blutdruck zu hoch, die Knie tun weh, das Treppensteigen fällt mir schwer. Und wenn es gute Nachrichten gibt, mache ich mir gleich Sorgen, dass irgendetwas schiefgehen könnte: Der Sohn ist erfolgreich im Beruf. Er arbeitet viel und offensichtlich gern. Ich denke: Na, hoffentlich übernimmt er sich nicht. Meine Freundin hat auf der Schwäbischen Alb ein Haus renoviert und will umziehen. Ich denke: Ob ihnen der Neuanfang wirklich gelingen kann?

Ich befürchte Baustellen, wo keine sind. Wenn alles gut läuft, das fällt mir gar nicht auf. Der Zahnarzt hat mich an einen Psalm erinnert, ein altes Gebet aus der Bibel. Früher hat man es hier in Württemberg in jedem Gottesdienst gemeinsam gebetet, immer nach dem Abendmahl. Das konnte man deshalb fast so sicher auswendig wie das Vaterunser. „Lobe den Herrn, meine Seele“ heißt der Psalm, „Lobe den Herrn meine Seele und vergiss nicht, was er Dir Gutes getan hat“ (Psalm 103, 2) Das hat einen jedes Mal erinnert: Vergiss das Gute nicht!

Da, wo ich jetzt lebe, beten wir das nicht im Gottesdienst. Dabei wäre die Aufforderung für viele bestimmt gut: „Lobe den Herrn, meine Seele!“ Ich stelle mir vor, wie da eine Seele verängstigt und sorgenvoll und bekümmert vor sich hinstarrt. Und der Mensch stupst sie gewissermaßen an, ermuntert sich selbst: Sieh doch, wie gut es dir geht! Sieh doch, wie schön diese Sommertage sind. Schau, was dir in dieser Woche gelungen ist. Was Gott dir geschenkt hat.

Nötig waren solche Erinnerungen anscheinend zu allen Zeiten. Sogar im entsetzlichen 30jährigen Krieg hat Paul Gerhardt gedichtet: „Geh aus mein Herz und suche Freud…“ und mit seinem Lied an sich selbst und an andere appelliert: Rausgehen und suchen! Schaut an, was es da gibt und was zum Vergessen zu schade ist!

Ich glaube, diese Erinnerung fehlt manchmal. Auch im Gottesdienst ist ja oft von dem die Rede, was nicht gut ist in der Welt. Für die Armen wird gebetet und für die Leidenden, für die Menschen, die unterdrückt werden und keine Chance haben. Das Danken gerät in Vergessenheit, wird verschüttet unter den vielen schlechten Nachrichten. So bleibt das Gefühl, dass man sich Sorgen machen muss. Und die Sorgen machen einen mutlos. Man kann ja doch nichts machen, sagen sich viele.

„Jetzt habe ich mir vorgenommen jeden Tag drei Sachen zum Loben zu finden“, schreibt die Theologin Dorothee Sölle in einem ihrer Gedichte; und weiter: „Dies ist eine geistlich-politische Übung von hohem Gebrauchswert“[1].

Das gefällt mir. Ich will das probieren. Ich möchte eine von den Leuten sein, die wirklich hinschauen und differenzieren. So lässt sich besonnen und ruhig überlegen, was ich tun kann für unsere Welt. Wer dankbar sein kann, kann sich besser begrenzen und kann leichter abgeben und mit denen teilen, die weniger haben.

Mein Zahnarzt hat mich erinnert: Es gibt ganz viele Baustellen, die ich nicht habe. Und auch in unserem Land gibt es vieles, was funktioniert. Gott sei Dank.

Nun kann ich nicht jede Woche zum Zahnarzt gehen, damit er mich wieder daran erinnert. Deshalb habe ich mir vorgenommen, jeden Abend diesen Psalm zu beten: „Lobe den Herrn, meine Seele und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.“ Und zum Zahnarzt gehe ich dann im nächsten Sommer wieder.

 

[1] Dorothee Sölle, Fliegen lernen. Gedichte, Wolfgang Fietkau Verlag, Berlin 1979, S. 7

 

Es gilt das gesprochene Wort.