Gestern gingen sie um die Welt. Sie reihten sich ein in Bilder von Klimaprotesten, Ukraine-Krieg, Wettervorhersage und Lottozahlen. Ich spreche von den Bildern von Kranzniederlegungen, von weißen Kerzen und roten Nelken auf frisch geputzten Stolpersteinen – Gedenkbilder. Bilder, die zu denken geben.
Gestern, am Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust und des 78. Jahrestages der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau. In die Gesten des andächtigen Trauerns und die Rituale der Kranzniederlegung hinein, in die „Nie-wieder“- und „Wir-haben-sie-nicht“-Vergessen-Reden, mischt sich mein ungutes Gefühl: Wirklich „nie wieder“?
Haben wir wirklich aus diesem einmaligen Gewaltereignis gelernt? Ist es denn so, dass wir sie nicht vergessen haben? Und wer ist dieses „wir“?
Ich höre schon diejenigen, die sagen: „Och, immer diese Gedenkfeiern, jedes Jahr wieder, irgendwann ist’s auch mal gut.“ In mir regt sich Widerstand. Meine innere Stimme schreit: „Niemals.“ Und „schön wär’s.“
Schön wär’s, wenn wir alle verstanden hätten: alle Menschen, egal welcher Religion, Weltanschauung, Hautfarbe, Herkunft, egal welchen Geschlechts, Alters und welcher sexuellen Orientierung haben die gleiche Würde. Ohne „wenn und aber“: alle Menschen. Punkt! Nein – Ausrufezeichen!
Schön wär’s, wenn wir 2023 nicht mehr daran erinnert werden müssten, dass wir es sind, die Fanatismus und Faschismus ein Stopp-Schild entgegenhalten müssen. Das braucht unter Umständen viel Mut. Ja, es braucht sehr viel Mut auf der richtigen Seite zu stehen.
Niemals dürfen wir aufhören, der Toten zu gedenken, um sie zu trauen, sie zu betrauern. Nicht im Land der Täter und auch sonst nirgends.
Jedes Leben ist von Gott gewollt. Jedes Leben ist es wert, geachtet, respektiert und geschützt zu werden. Und jedes beendete Leben ist es wert, betrauert zu werden.
Der Internationale Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust nimmt auch den heutigen, aktuellen Antisemitismus und Antijudaismus in den Blick.
Schön wär’s, würde die Diskriminierung und Verfolgung, die Abwertung und Stigmatisierung und die Gewalt an Jüdinnen und Juden der Vergangenheit angehören.
Schön wär’s, wäre das ein Thema, mit dem selbst Jüdinnen und Juden nichts mehr anzufangen wüssten. Aber solange dies nicht der Fall ist, so lange dürfen wir nicht aufhören, eine Kultur der Erinnerung zu praktizieren.
Nicht der Symbole wegen, sondern um zu erinnern: Wir selbst sind es, die für eine Kultur des Respekts eintreten müssen. Jeden Tag aufs Neue.
Mitteldeutscher Rundfunk (MDR)
Redaktion: Susanne Sturm
Katholischer Senderbeauftragter für Das Wort zum Sonntag für den MDR
Guido Erbrich, Bistum Dresden-Meißen
Georg-Schumann-Straße 336
04159 Leipzig
Tel: 0341 - 46766115
E-Mail: senderbeauftragter@bddmei.de