Bob Dylan – Ich bin viele. Eine geistreiche Spurensuche am Pfingstmontag

Bob Dylan – Ich bin viele. Eine geistreiche Spurensuche am Pfingstmontag
Rundfunkgottesdienst aus dem Literaturhaus St. Jakobi in Hildesheim
24.05.2021 - 10:05
18.05.2021
Pastor Dr. Matthias Surall und Pastorin Imke Schwarz
Über die Sendung

Prediger: Pastor Dr. Matthias Surall und Pastorin Imke Schwarz

Liturgie: Pastor Dr. Matthias Surall und Pastorin Imke Schwarz

Lektorin: Judith Martin

Musikalische Leitung: Andreas Hülsemann

Keyboards und Cachon: Andreas Hülsemann

Harmonika: Dr. Norbert Schwarz

Gitarre: Roland Epp

Gesang: Martin Kleemann

 

 

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Predigt zum Nachlesen
 

Teil 1 (Surall) 
Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt. Amen.

Wer ist Bob Dylan? Eine einfache Frage, diesen Namen hat doch jeder schon gehört und kann ihn einordnen. Zugleich verbindet fast jede mindestens ein oder zwei Songs mit diesem Künst-lernamen, sei es „Blowin‘ In The Wind“ oder „Like A Rolling Stone“ oder oder. Damit geht dann oft auch schnell ein Geschmacksurteil einher, zumeist in Bezug auf seine unverwechsel-bare Stimme. Und bei denen, die ihn besser kennen, eine Vorliebe für eine bestimmte Phase seiner Karriere: Der Protestsänger. Der coole Hipster oder Shakespeare der Juke-box. Der Country-Barde. Der Gospel-Rocker usw. Also: Wer ist Bob Dylan, einfache Frage und einfache Antwort? 
Moment, Moment, mit Dylan ist es ein wenig so wie mit dem Geist Gottes: Er ist schwer zu fassen und auf eines allein festzulegen. Viele Gaben – ein Geist, heißt es vom Heiligen Geist in unserem Predigttext. Und Dylan kann über sich selbst zusammenfassend sagen: Ich bin viele! Viele Gesichter und Hüte, Masken und Rollen – alles auf der einen Bühne seiner langen Karrie-re vor allem als Live-Künstler.
1976 zum Beispiel tourte er mit einer Art musikalischem Wanderzirkus durch die USA. „Rol-ling Thunder Revue“ nannte er das Ganze. [„Rollender Donner.“] Bob Dylan trägt bei diesen Konzerten mindestens einen großen Hut mit viel Blumen-schmuck daran. Oft ist er zudem mit weiß geschminktem Ge-sicht unterwegs und in manchen dieser Konzerte trägt er sogar eine Maske vor dem kompletten Gesicht.
Ist das sein Ernst? Und ob!
Robert Zimmermann trägt viele Namen: Bob Dylan, Blind Boy Grunt, Lucky Wilbury oder Jack Frost. Er zeigt viele Gesichter, trägt öfter Masken, spielt etliche Rollen und hat viele Hüte auf im wahren wie im übertragenen Sinne. 
Er ist wahrlich viele – und das ist spannend und gut so: denn so wird Dylan nie langweilig, bleibt nicht stehen, entwickelt sich fort. 
Viele Häutungen, Masken und Kräfte – ein Künstler; verschiedene Stile, Phasen, Stimmen – ein Sänger. Viele Inspirationen, Einflüsse und Versatzstücke – ein Werk, ein Kosmos. Folk, Rock und Country. Blues, Gospel und Swing. Zartes Liebeslied oder Protestsong, Episches Songge-mälde oder schicksalsschwangeres Klagelied. Da wäre „Blowin‘ In The Wind“ – viele Fragen, ein Song. „Gotta Serve Somebody“ – jemandem dienen, zwei Alternativen, eine Entscheidung. Der eben gehörte „Jokerman“ und „I Contain Multitudes“ – Ich bin Viele!

Gibt es einen Geist in dem allen? Ja, ich denke hier an den Geist Gottes, den Geist der Viel-falt und der Freiheit, der Inspiration und der Irritation, der überraschend auch dort wirkt, wo wir vielleicht gar nicht damit rechnen… viele Sprachen, Stile und Songs – ein Geist; viele Zun-genschläge und Akzente – ein Spirit, ein inspirierendes, verbindendes Element in alledem.

Bob Dylan wurde am 24. Mai 1941 im US-Bundesstaat Minnesota als Robert Allen Zimmerman geboren. Er feiert heute, am Pfingstmontag 2021, seinen 80. Geburtstag. Und wir feiern mit ihm als Gesprächs- und Gesangspartner dieses Pfingstfest. Wir feiern mit ihm und in ihm die Kunst und die Freiheit, die Vielfalt und die Einheit, das Leben und das Fragen, das Sehnen und den Glauben. Wir feiern all das, was wir Christen mit dem Wirken des Heiligen Geistes in Verbindung bringen: die Vielfalt seiner Gaben, die Unverfügbarkeit und Freiheit seines Wir-kens, das Überraschende seiner Erscheinungsformen und Wirkungen. Kurz: Viele Gaben – ein Geist. Verschiedene Kräfte – ein Gott. Und auch dies: Viele Fragen – eine Sehnsucht. Viele Inspirationen – ein roter Faden. 

Ich bin viele – so könnte es auch Gottes Heiliger Geist von sich selber sagen. Ich bin viele – denn ich wirke alles in allem. Oft hintergründig und inspirierend, ab und an aber auch ge-heimnisvoll bis abgründig oder überwältigend und manchmal ganz offensichtlich.
Der eine merkt es, die andere will es nicht wahrhaben.
Bob Dylan jedenfalls weiß um seine Vielheit, kennt und be-nennt seine Inspirationen und auch seine Ungereimtheiten. Er ist viele – und er steht dazu.

Teil 2 (Schwarz) 
Es war in einem Seminar für Zeitmanagement. Ich erinnere mich genau. Die Referentin stellt mehrere Playmobilfiguren auf das Rednerpult, darunter eine Krankenschwester, einen Polizis-ten, ein kleines Mädchen, einen Bauarbeiter. „Das ist ihr inneres Team“, sagt sie. „Jede Fi-gur steht für eine andere Eigenschaft von Ihnen. Und einer von denen steht immer vorn.“ „Wäre schön, wenn man das ein Team nennen könnte“, denke ich und frage mich: Wer steht bei mir gerade vorn? Die resolute Krankenschwester? Das schüchterne Mädchen? Der zu-packen-de Bauarbeiter? Frau? Mann? Kind? Erwachsener? Und wer steht in der letzten Reihe? Wer oder was davon bin ich? 
Und wenn ja, wie viele? 

Wenn ich ehrlich in mich hineinsehe, dann hat diese Referentin recht: Es gibt diesen einen Körper, aber es wohnen mehrere Personen darin. Die sich manchmal verstehen und manchmal nicht. Einige davon kenne ich, andere wiederum nicht. Manche durften bisher nicht laut wer-den. Auf jeden Fall ist diese innere WG nicht leicht zusammen zu halten. 
„Sei du selbst“ – ein oft zitierter Kalenderspruch. Vermutlich unmöglich. Ist zumindest richtig Arbeit. Denn ich selbst, das sind viele. I contain multitudes, singt Bob Dylan. Ich bin also in guter Gesellschaft: Dem Künstler, Songpoeten, Freigeist ging und geht es ähnlich. 

Niemand kann mich auf etwas festlegen. Ein Urteil sprechen. Dass in mir mehrere Personen wohnen, ist gut. Ich darf mich selbst entwerfen wie ein Bild, das ständig neue Farben be-kommt. Ich kann wechseln zwischen Identitäten, heute eine weibliche und morgen eine männliche Seite zeigen – wie Dylan es in seinem Song, den wir gleich hören werden, andeutet. 

Diese Erkenntnis hat aber auch eine andere Seite: Denn ich selbst bin der Architekt meiner Identität und das kann überfordern. Immer auf mich selbst angewiesen, meine Deutungen, meine Entscheidungen. In Konkurrenz mit Anderen, die vermeintlich besser dastehen, eine interessantere Geschichte über sich erzählen, posten, posaunen… 

In der momentanen Situation spielt sich viel digital ab. Da geht es darum, die interessanteste Geschichte zu inszenieren. Es gibt die, die sichtbar sind und die, die es nicht sind, die im Hintergrund arbeiten. Mehr als je zuvor können Personen sich selbst erfinden und eben auch faken, sich so zeigen, wie sie es wollen, aber eigentlich gar nicht sind. …

So werde ich unsicher und bin selbst nicht standfest. Schwanke wie auf einem Schiff im Sturm. Versuche, mich irgendwo fest-zuhalten und habe damit Glück. Oder scheitere an zweifelhaften Angeboten von Halt und Sicherheit. Ich bin ich in einer lan-gen Folge von Menschen, die vor mir waren, mit mir sind und nach mir kommen… Auch diesen Gedanken finde ich in diesem Lied über die Vielgestaltigkeit und Vielschichtigkeit von Dylan wieder. Er stellt sich selbst in eine Tradition, verbindet sich mit anderen Menschen, die ihn geprägt haben und ein Stück in ihm weiterleben.

Ich lebe nicht nur aus mir selbst – diesen Gedanken kann ich noch größer denken. Er ist ein Anker in aller Suche und Unsicherheit. In aller Freiheit, die manchmal so schwer zu händeln ist. „Es sind verschiedene Gaben, aber es ist ein Geist. Es sind verschiedene Kräfte, aber es ist ein Gott.“ In allem, was ich bin, lebe ich aus diesem einen Geist. Seinem Geist, der Leben schafft und Freiheit gibt. Ich habe mir das Leben nicht gegeben und halte es nicht zusammen. Ich denke an die Playmobilfiguren aus der Schulung, mein „inneres Team“. Krankenschwester, Polizist, Mädchen, Bauarbeiter. Wer auch immer von ihnen gerade das Sagen hat – er oder sie hat nicht das letzte Wort. Für mich hat es der Geist, auf den ich zugehe und aus dem ich komme. Er ist Fluchtpunkt des Lebens, Grenze und Ort der Sehnsucht. In ihm wird ganz und heil, was mir so vielgestaltig erscheint. Auf ihn, den Geist Gottes, beziehe ich all mein Tun und stelle es in sein Licht. Mit den Worten von Bob Dylan: „I go right where all things lost - are made good again“ - „Ich gehe dorthin, wo alles Verlorene wiedergutgemacht wird“. 

Wir hören jetzt Bob Dylan mit „I Contain Multitudes“ – Ich bin viele oder: Im mir liegt Vielfalt im Original. Eine Aufnahme von 2020.

Teil 3 (Surall)
„I Contain Multitudes“ - „Ich bin viele“ sagt und singt Bob Dylan in diesem Songgemälde aus dem vergangenen Jahr. Der Erzähler in den Versen ist ein Mensch mit vielen Gesichtern, Mas-ken, Eigenschaften. Typisch Dylan: du kannst nie sicher sein, wer genau dieses Ich nun ist…

„I Contain Multitudes“ beginnt mit der schlichten Feststellung der Sterblichkeit aller Dinge. Direkt nach dieser Einleitung ist der Erzähler auch schon in Bewegung. Er hat ein Ziel vor Au-gen und er braucht Begleitung, dringend. Ein Mensch mit weiblichen wie männlichen Anteilen: er spielt mit seinem Haar, einer-seits. Andererseits kämpft er bis aufs Blut.
Und er ist noch viel mehr: Ein Geschichtenerzähler, Autoliebhaber, Maler. Auch als solcher ist er nicht auf ein Genre festgelegt, sondern malt Landschaften wie Akte. Er hat viele Leiden-schaften und weiß um seine Widersprüche und auch wechselnden Stimmungen. Er stellt das klar, auch wenn es nichts zu entschuldigen gibt. 
Schließlich: er ist erfahren, kennt sich aus in Literatur und Ge-schichte, Hoch- wie Popkultur. Er überschreitet die Grenzen, schließt die Lücken, lässt überholte, vermeintliche Gegensätze hinter sich. Ihm macht keiner so schnell was vor. 

Was für ein Bogen, der hier gespannt wird, was für ein Horizont, der sich eröffnet: Von Anne Frank – wohlgemerkt: Bob Dylan ist gebürtiger Jude – über Indiana Jones bis zu den Rolling Stones, vom Rand bis zum Ende, vom Verlust bis zur Allversöhnung. Diesem Songpoeten ist nichts Menschliches noch gar Göttliches fremd.
Er ist und bleibt unterwegs – bis zum Ende. Und er hat Hoffnung, geht er doch dorthin, wo alles Verlorene wiedergutgemacht wird. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass er sich seine Offenheit bewahrt hat – nach außen wie nach innen. 

Ich bin viele – ich bin Bob Dylan, ein Künstler mit einer langen Schaffenszeit. Bewundert, aber auch angefeindet. Eine Karriere voller Höhen und Tiefen, überraschender Wendungen und Wechsel. Doch „Ich bin viele“ heißt bei Dylan auch: Ich habe in den mancherlei Verästelungen meiner Kunst einen zweifachen Anker: die Achtung vor der Tradition und das Mich-in-Beziehung-Setzen zu anderen bis hin zu Gott.

„Mein Gebetsbuch sind die Songs“ hat Bob Dylan mal gesagt. Er meint die vielfältige US-amerikanische Songtradition inklusive Blues und Gospel. Hier wird er geerdet und aufgeladen. Hier findet er die Anregungen und Ausdrucksformen, die er selber hemmungslos liebt und klaut. Inklusive der biblischen Bezüge und spirituellen Sehnsüchte, die sein Werk wie ein roter Faden durchziehen.

Rot, liebe Gemeinde, ist die Farbe der Liebe wie des Feuers und damit des Heiligen Geistes. Rot ist die liturgische Farbe, jetzt zu Pfingsten. Der rote Faden, der alle gute Kunst durch-zieht, sie als solche erkennbar macht, besteht darin: hier, wie eben im Werk von Bob Dylan, geht es um die wahrlich großen Themen. Von Anfang an, schon in „Blowin‘ in the Wind“. Um Sehnen und Liebe, Endlichkeit und Tod. Und es geht darum, dass ein Künstler für seine Bear-beitung dieser Themen wirklich brennt, Feuer und Flamme für diese seine Kunst ist. 

Wo dies geschieht, da dürfen wir das Wirken von Gottes Geist vermuten, ihn am Werke wäh-nen. Auch dort, wo die Kunst und das Lebenswerk unvollendet bleiben. Die künstlerische Frei-heit und die Freiheit des Geistes sind Geschwister. Gott ist so frei, durch seinen Geist auch das in Dienst zu nehmen, was uns als Ansprache Gottes überraschen mag. Der Geist weht und wirkt, wo Er will.

Und wir tun gut daran, uns von diesem Wirken mitreißen, über-raschen, befragen und inspi-rieren zu lassen!
„Ich halte den Weg frei – den Weg in meinem Verstand
Ich sorge dafür, dass keine Liebe zurückgelassen wird
… Ich bin Viele“.
Sagt und singt Bob Dylan am Ende unseres Songs. Und Gottes Geist stimmt ein und überein: Ja, ich bin viele!
Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Es gilt das gesprochene Wort.
 

18.05.2021
Pastor Dr. Matthias Surall und Pastorin Imke Schwarz