Ich war noch nie in Seenot. Und sie?
Ein paar Mal bin ich mit Fähren übergesetzt, nach Juist oder Spiekeroog oder Texel. Ziemlich sicher also. Auch bei etwas mehr Wellengang. Kein großes Ding.
Ich weiß deshalb auch nicht, wie das ist, wenn die Wellen ins Schiff schlagen und es vollläuft. Wenn man kurz vor dem Untergehen und Ertrinken ist.
Ich kann’s nur ahnen: Todesangst. Panik. Rette sich wer kann. So was in der Art ist mit Sicherheit im Spiel. Auf jeden Fall würde ich so ziemlich alles versuchen, um zu überleben.
Darum irritiert es mich auch, dass die Jünger in der Geschichte, die Markus erzählt, so passiv sind. Da hast Du das Gefühl, die ergeben sich in ihr Schicksal. Jedenfalls ist da nichts zu lesen von Rettungsversuchen. Das Schiff aus der Gefahrenzone bringen. Gegensteuern. Das Wasser aus dem Boot schaffen – was auch immer. Aber: Nichts davon.
Klar, nicht alle waren erfahrene Seeleute. Aber ein paar waren doch dabei, die nicht ihren ersten Sturm erlebten. Petrus zum Beispiel. Der war Fischer. Und auch Andreas, Jakobus und Johannes. Die müssten doch mit so einer gefährlichen Situation irgendwie umgehen können. Das Heft, besser gesagt das Ruder, in die Hand nehmen und sich gegen den Sturm wehren. Sich mit aller Kraft und mit der Hilfe der anderen acht Männer gegen den Untergang stemmen.
Aber: Fehlanzeige.
Was ist mit den Jüngern los? Da rührt sich keiner.
Das einzige, was sie tun: Sie wecken Jesus und fragen ihn: „Macht es Dir nichts aus, dass wir untergehen?“.
Das ist „cringe“, um es mal mit dem Jugendwort des vergangenen Jahres zu beschreiben. Merkwürdig. Unverständlich. Nicht nachzuvollziehen. Allein dass Jesus auf dem Boot noch seelenruhig schläft, während längst ein Sturm tobt, ist merkwürdig genug.
Und ganz ehrlich, was ist das für eine Frage: „Macht es Dir nichts aus, dass wir untergehen?“ Wer will das denn wissen, wenn dir das Wasser bis zum Hals steht? Ja, er ist ihr Lehrer, so reden sie ihn auch an, sie haben Respekt vor ihm, wollen ihn vielleicht nicht belästigen. Trotzdem: So was wie „Schlaf nicht, hilf mit, dass wir nicht sinken“ – das hätte ich erwartet. Stattdessen: „Macht es Dir nichts aus, dass wir untergehen?“
Oder ist das als Vorwurf gemeint? „Warum machst Du nichts? Ist es Dir egal, dass wir gleich alle jämmerlich ersaufen?“.
Wie auch immer. Es bleibt mir ein Rätsel, was die Jünger da treiben, oder besser: nicht treiben. Sondern anscheinend hinnehmen. Als würden sie sich in ihr Schicksal ergeben.
„Macht es Dir nichts aus, dass wir untergehen?“.
Jesus antwortet nicht auf diese Frage. Geht überhaupt nicht auf irgendeine Art und Weise darauf ein. Zumindest nicht mit Worten.
Er stillt stattdessen den Sturm. Mit zwei kurzen Sätzen spricht er den Wind an: „Werde ruhig. Sei still“. Mit zwei kurzen Sätzen sorgt er für Ruhe. Und mit der Vollmacht, die der Sohn Gottes hat. Der beherrscht die Naturgewalten.
Staunen bei den Jüngern. Über diese göttliche Macht sowieso. Aber sicher auch darüber, dass Jesus ihnen dann mit einer Gegenfrage kommt: „Warum habt ihr solche Angst? Habt ihr immer noch keinen Glauben?“.
Ob sie damit gerechnet haben? Wenn die Frage der Jünger als Vorwurf gemeint war, dann dreht Jesus den Spieß jetzt um. Das höre ich jedenfalls aus seinen Gegenfragen raus: Ihr seid doch selbst schuld. Habt mehr Glauben, mehr Vertrauen – dann wisst ihr, dass ich Euch vor dem Sturm rette. Vor diesem und vor jedem anderen. Dass ich Euch nicht im Stich lasse. Dass ich Euch nicht untergehen lasse. Stattdessen lasst ihr Euch von Eurer Angst besiegen, die anscheinend viel stärker ist als Euer Glaube. Und Euer Zweifeln scheint viel größer als Euer Vertrauen in meine Macht.
Das sitzt. Und entsprechend konsterniert reagieren die Jünger. Keine Antworten auf die beiden Fragen. Keine Rechtfertigungen, Erklärungen, noch nicht mal Ausflüchte. Nur ungläubiges Staunen – im wahrsten Sinne des Wortes.
Auch kein „Aha“-Effekt: Ja, das hätten wir wissen müssen. Na klar. Immerhin haben wir ja schon erlebt und mit eigenen Augen gesehen, dass er böse Geister ausgetrieben hat, Kranke geheilt, Wunder getan. Warum sollte er uns, die er ja gesucht hat, mit denen er Menschen fischen will – warum sollte er ausgerechnet uns untergehen lassen?
So klar können Sie anscheinend in dem Moment nicht denken.
Stattdessen, so erzählt es die Geschichte, „überkam sie große Furcht. Sie fragten sich: „Wer ist er eigentlich? Sogar der Wind und die Wellen gehorchen ihm!“
Heißt doch: Sie haben tatsächlich nicht damit gerechnet, dass Jesus diese Macht hat. Haben noch nicht genug Glauben, genug Vertrauen, um damit zu rechnen. Sind noch immer skeptisch, auch wenn sie schon mit eigenen Augen gesehen haben, dass er Wunder tun kann.
Eine Geschichte über Untergang und Rettung. Über zweifeln und glauben. Über Angst und Vertrauen.
Ich war zwar noch nie in Seenot, aber in Seelen-Not schon oft. Und davon erzählt die Geschichte über die Stillung des Sturms auch. Da finde ich mich wieder – in dem, was die Jünger tun oder nicht tun.
Ich denke an die Stürme in meinem Leben, in denen mir das Wasser bis zum Hals steht. In denen ich Angst habe, im Strudel von Überforderung, Planlosigkeit, Hilflosigkeit zu ertrinken. Noch nicht mal mehr ein Strohhalm, an dem ich mich festhalten könnte. Die Wellen schlagen ins Boot. Das lähmt mich, lässt mich fast erstarren. Klares Denken - nicht möglich.
Handfeste Krisen sind das, liebe Gemeinde, die unser Leben heftig durcheinander wirbeln. Darüber können Sie sicher ihre eigene Geschichte erzählen. Und es gibt so viele Menschen, die mitten im Sturm sind.
Der Schüler auf dem Gymnasium zum Beispiel, dessen Lernbedingungen während der Corona-Pandemie alles andere als optimal sind. Mal Distanz, mal Präsenz. Mal mit Lehrerinnen, mal mit Eltern lernen. Kein Rhythmus mehr. Nichts Vertrautes. Kaum Kontakt zu seinen Freunden. Und er verliert den Anschluss, kommt nicht mehr mit. Der Druck wird hoch, die Noten schlechter.
Er weiß nicht, wie er da wieder rauskommen soll.
Die Frau, deren Ehe eigentlich schon lange keine tragfähige Basis mehr hat. Die Liebe ist verloren gegangen. Aber sie hat Angst, sich das einzugestehen, geschweige denn mit ihrem Mann darüber zu sprechen und Konsequenzen zu ziehen. Der Schmerz sitzt zwar tief, aber die Panik vor einer Trennung ist fast noch größer. Was wird mit den Kindern sein? Als alleinerziehende Mutter – wie viele Schwierigkeiten kämen da auf sie zu? Und wie würde ihr Mann überhaupt reagieren?
Sie dreht sich im Kreis, findet kein Packende. Und leidet.
Der Mann, dessen Mutter in den Anfängen der Pandemie im Seniorenheim verstorben ist. Er durfte sie nicht besuchen. Konnte nicht bei ihr sein, als sie ihren letzten Atemzug tat. Das lässt ihm keine Ruhe. Die Frau, die immer für ihn gesorgt hatte – er konnte nichts für sie tun, sie musste einsam sterben, er konnte ihre Hand nicht halten. Dieser Gedanke lässt ihn nicht los. Er fühlt sich schuldig.
Er ist rast- und ruhelos. Er kann nicht mehr.
Ich selbst kann meine Geschichte erzählen – über die Krankheit, die mitten in mein Leben geplatzt ist. Aus dem Nichts kam der Krebs. Plötzlich bin ich dem Tod näher als dem Leben. Kann mich kaum noch wehren. Von einem Tag auf den anderen ist nichts mehr, wie es vorher war. Die Wege, die ich eigentlich noch gehen will, sie werden zu Sackgassen. Meine Kinder, meine Frau, meine Familie und Freunde – die Schmerzen und die Trauer, wie sollen sie das verkraften? Und wie werde ich das verkraften, was an Leid und Schmerzen auf mich zukommt?
Wellen von Angst und Aussichtslosigkeit brechen über mich herein. Ich kann nicht mehr klar denken.
Liebe Gemeinde,
die Seeleute, die Fischer unter den Jüngern müssen eigentlich damit rechnen, dass jederzeit ein Sturm ausbrechen kann. Das muss ihnen ihre Erfahrung sagen. Trotzdem sind sie unvorbereitet, die Angst packt und lähmt sie.
Wir wissen auch, dass wir vor Krisen, vor schwierigen und bedrohlichen Momenten in unserem Leben nicht verschont werden. Das können wir an anderen Lebenswegen ablesen. Oder an unseren eigenen. Und trotzdem wird uns der Boden unter den Füßen weggezogen und wir stehen da – wehrlos, hilflos, aussichtslos.
Und fragen uns: Macht es Dir, Jesus, gar nichts aus, dass es mir grad so dreckig geht? Dass ich kein Land mehr sehe? Dass ich untergehe? Wo bist Du? Warum hilfst Du nicht?
Ich finde Antworten in der Geschichte, die Markus erzählt.
Jesus sitzt mit im Boot. Eine genauso schlichte wie bewegende Wahrheit.
Denn: Er ist da. Sehr nahe sogar. Erlebt denselben Sturm wie ich. Wird genauso durchgeschüttelt wie ich.
Jesus sitzt mit im Boot.
Jesus beruhigt die Situation. Bringt Ruhe in mein durcheinander gewirbeltes Leben. Nimmt dem, was so bedrohlich ist, den größten Schrecken.
Verschafft mir Luft.
Stillt meine inneren Stürme.
Glättet erstmal die höchsten Wogen. Lässt mich wieder etwas klarer sehen.
Jesus beruhigt die Situation.
Jesus spricht mich an. Direkt. Er fragt nach meinem Glauben: „Warum habt ihr solche Angst? Habt ihr immer noch keinen Glauben?“. Das höre ich nicht als Vorwurf. Eher als Ermutigung: Ihr habt doch Glauben! Ihr habt gesehen, erlebt, dass ich helfe, heile, Angst nehme, Hoffnung gebe.
Vergesst das doch nicht gerade dann, wenn ihr in Krisen geratet, wenn ihr den Stürmen Eures Lebens nicht ausweichen könnt.
Ich bin doch da. Bei Dir. Lass dich nicht im Stich.
Jesus spricht mich an.
Das, liebe Gemeinde, ist pures Evangelium, ganz und gar frohe Botschaft.
Mitten in den hohen Wellen, die sich vor mir auftürmen, ist Jesus an meiner Seite. Sorgt sich um mich, sorgt dafür, dass ich nicht untergehe.
Mit ihm komme ich durch die bedrohlichsten Stürme hindurch - wenn ich ihm nur vertraue. Darauf vertraue, dass er der ist, dem sogar Wind und Wellen gehorchen, der hilft, heilt, Angst nimmt und Hoffnung gibt.
Am Ende ist das Boot nicht gekentert. Die Jünger haben überlebt.
Manchmal geht es gut, auch heute.
Eine Frau entschließt sich und trennt sich doch von ihrem Mann. „Endlich“ sagen die Freunde und sind da. Aber erst mal herrscht Chaos. Umzug, Arbeit, Sorgerecht – wie im Sturm. Der legt sich erst langsam. Und immer spürt sie: Gott hält an mir fest. Seine Liebe trägt mich da durch. Egal, was kommt.
Ein Mann, Anfang 60, übersteht Corona. Es kommt ins Krankhaus. Er atmet unter einer Maske aus eigener Kraft. Er betet und ringt jeden Tag. Und findet dann zurück ins Leben.
Viele Lebensgeschichten gehen aber nicht so aus. Da ist nichts mit Happy-End und gerade nochmal gut gegangen.
Mag sein, dass Jesus an meiner Seite ist, mit mir im Boot, die ganze Zeit – aber was, wenn die Wellen doch zu hoch sind und der Untergang unvermeidbar? Und das, obwohl ich darauf vertraut habe, dass er auch den gefährlichsten Sturm stillen kann?
Beziehungen brechen auseinander, Menschen sterben, erliegen dem Kampf gegen den Tod und werden nicht gerettet. Obwohl sie so gebetet und gehofft haben. Hat dann der Glaube nicht geholfen? Hat sich das Vertrauen nicht ausgezahlt?
Manchmal kämpfe ich selbst mit dieser Frage. Was, wenn der Krebs die Oberhand behalten und mich mitten aus dem Leben gerissen hätte? Wie wäre es mir ergangen in diesem Sturm?
Ich frage mich: Was ist das also für ein Glaube, den Jesus bei den Jüngern vermisst? Was ist das für ein Vertrauen, nach dem er fragt, auch mich?
Was ich für mich klar gekriegt habe: Es ist bedingungslos. Wenn ich Jesus vertraue, dann mit meinem ganzen Leben. Mit allem, was ich bin. Vom ersten Atemzug bis zum letzten. Und ich knüpfe eben keine Bedingung daran – zum Beispiel die, dass er mich vor allen Stürmen des Lebens bewahrt, mich vor allem rettet, was Leid bedeutet – und vielleicht sogar vor dem Tod.
Schwierig, meinen Sie? Finde ich auch.
Man fühlt sich ausgeliefert, wenn man so bedingungslos vertraut. Aber will ich mich stattdessen der Angst ausliefern? Mich von der Angst bestimmen lassen, wenn es schwer wird? Nein, ich will vertrauen, dass Jesus mich da durch trägt. Durch alles.
Genau darum geht es. Jesus zu vertrauen, das heißt, dass ich mich ganz öffne für ihn. Vom ersten Atemzug bis zum letzten.
Weil ich fest glaube, dass er weiß, was gut für mich ist. So wie ein Kind voll und ganz und ohne jeden Zweifel fest glaubt, dass sein Vater und seine Mutter wissen, was gut für es ist.
Dann kann ich erleben, dass Jesus mich festhält, an meiner Seite bleibt, selbst wenn ich in den Untiefen des Lebens untergehe.
So zu vertrauen, heißt: Keine Angst haben. Nicht vor dem Leben. Nicht vor dem Sterben. Gott lässt mich nicht fallen, er fängt mich auf. So oft schon im Leben. Und am Ende auch im Tod.
So zu vertrauen heißt: Hoffnung haben, die größer ist als alle Stürme, in die ich geraten werde.
Amen
Es gilt das gesprochene Wort.
Pfr. Dr. Titus Reinmuth, Stellvertretender Evangelischer Rundfunkbeauftragter beim WDR
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