Hirte, Herde, Herdenschutz

Ev. Kirche Dollendorf

Titus Reinmuth

Hirte, Herde, Herdenschutz
Rundfunkgottesdienst aus der Evangelischen Kirche Dollendorf in Königswinter
18.04.2021 - 10:05
13.04.2021
Pfarrerin Dr. Anne Kathrin Quaas
Über die Sendung

Predigerin: Pfarrerin Dr. Anne Kathrin Quaas

Predigt zu Ez 34, 1 2.10 16.31

 

 

Gottesdienst nachhören

 

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Predigt zum Nachlesen
 

Dieser Sonntag erzählt von der Hoffnung. 
Von einem Silberstreif am Horizont. 
Von Menschen, die in der Gemeinschaft gut aufgehoben sind,
die zusammenhalten, und immun sind gegen Gefahren.
Weil sie beschützt sind.
Dieser Sonntag erzählt:
Die Verirrten finden nach Hause; 
die vom Leben Verletzten werden versorgt; 
die Schwachen werden gestärkt und die Starken beschützt. 
So wird es sein. Das ist die Hoffnung.

Die Hoffnung von so vielen in diesen Tagen: 
Herdenimmunität. Endlich geschützt sein – immun gegen das Virus. 
Endlich wieder zusammen sein – ohne soziale Distanz.
Schutz auch für die, die sich selbst nicht schützen können.

Herr Kampmann z.b. wird sich nicht impfen lassen. Damals – vor 12 Jahren - bei der Impfung gegen die Schweinegrippe, da hat er mit einem allergischen Schock reagiert und wäre fast gestorben. 
Herr Kampmann hat schon seit Monaten das Haus nicht verlassen. 
Die Einsamkeit macht ihm mehr und mehr zu schaffen.

Susanne, die junge Frau im Haus gegenüber wird auch nicht geimpft. Sie ist im vierten Monat schwanger.
Die Corona-Impfstoffe sind für Schwangere nicht zuglassen, weil ihre Wirkung für Schwangere nicht ausreichend erforscht ist.
Susanne kann immerhin zwei Menschen als engste Kontaktpersonen benennen, die jetzt zum Schutz der Schwangeren und des Babys in ihrem Bauch geimpft werden.

Lara, die würde sich gerne impfen lassen. Sie gehört zur Risikogruppe, hat einen schweren Herzfehler – schon von Geburt an. Aber Lara ist erst 14 und für Jugendliche in ihrem Alter gibt es noch keinen Impfstoff. Also verbringt Lara viel Zeit allein. Homeschooling ist für sie die Rettung. So sieht sie wenigstens jeden Tag die ganze Klasse – und auch ihre Freundinnen.

Lara, Susanne und Herr Kampmann teilen in diesen Wochen eine große Sehnsucht: Her-denimmunität. Schutz vor Covid 19 durch den Herdeneffekt: D.h. alle sind geschützt, obwohl nicht alle geimpft sind.
Wenn der größte Teil der Herde immun ist, dann sind auch die geschützt, die nicht immuni-siert werden konnten.
Herdenschutz - wie gut wäre das! 
Wieder rausgehen können, wieder unter Menschen sein, 
wieder leben!

Der Prophet Ezechiel hat zum Thema Herdenschutz auch etwas zu erzählen. Seine uralten Worte von den Hirten und der Herde kommen aus einer tiefen Sehnsucht: Herdenschutz – wie gut wäre das!
Wir hören Worte aus Ezechiel 34:
1Und des Herrn Wort geschah zu mir: 2Du Menschenkind, weissage gegen die Hirten Israels, 
weissage und sprich zu ihnen: So spricht Gott der Herr: Wehe den Hirten Israels, die sich selbst weiden! Sollen die Hirten nicht die Herde weiden? 10 So spricht Gott der Herr: Siehe, ich will an die Hirten und will meine Herde von ihren Händen fordern; ich will ein Ende da-mit machen, dass sie Hirten sind, und sie sollen sich nicht mehr selbst weiden. Ich will meine Schafe erretten aus ihrem Rachen, dass sie sie nicht mehr fressen sollen. (...) 11Denn so spricht Gott der Herr: Siehe, ich will mich meiner Herde selbst annehmen und sie suchen. 12Wie ein Hirte seine Schafe sucht, wenn sie von seiner Herde verirrt sind, so will ich meine Schafe suchen und will sie erretten von allen Orten, wohin sie zerstreut waren zur Zeit, als es trüb und finster war. 13Ich will sie aus den Völkern herausführen und aus den Ländern sam-meln und will sie in ihr Land bringen und will sie weiden auf den Bergen Israels, in den Tä-lern und wo immer sie wohnen im Lande. 14Ich will sie auf die beste Weide führen, und auf den hohen Bergen in Israel sollen ihre Auen sein; da werden sie auf guten Auen lagern und fette Weide haben auf den Bergen Israels. 15Ich selbst will meine Schafe weiden, und ich will sie lagern lassen, spricht Gott der Herr. 16Ich will das Verlorene wieder suchen und das Ver-irrte zurückbringen und das Verwundete verbinden und das Schwache stärken und, was fett und stark ist, behüten; ich will sie weiden, wie es recht ist. 31Ja, ihr sollt meine Herde sein, die Herde meiner Weide, und ich will euer Gott sein, spricht Gott der Herr.

 „Du, Menschenkind, weissage ...“
Einer muss die Ansagen machen. Gerade in der Krise.
Ezechiel wäre eigentlich Priester am Tempel in Jerusalem geworden, wie sein Vater. Aber nun gibt es ja keinen Tempel mehr, nachdem die Babylonier Jerusalem zerstört haben. Mit Tau-senden aus seinem Volk ist Ezechiel nach Babylon verschleppt worden. Priester ohne Tempel  - im Exil, das geht nicht und so wird Ezechiel Prophet: Göttlich beauftragt spricht er zum Volk von Heil und Unheil. Wohl und Wehe.
„Du, Menschenkind, weissage ...“ - 
Einer muss die Ansagen machen. Ezechiel ist von Gott beauftragt. Geliebt wird er dafür nicht unbedingt.

Bei uns gibt’s freitags die Ansagen vom Robert-Koch-Institut 
und dem Gesundheitsminister. 
Alle 2-3 Wochen tagt die Ministerpräsidentenkonferenz, vor den Fernsehern kollektives Warten auf die anschließende Pressekonferenz. 
Jeden Morgen – schon vor dem Frühstück – gibt’s die neuen Inszidenzwerte, die Zahl der Infi-zierten und der Toten.
Auf die erste Welle folgt die zweite, dann die dritte.
Auf Lockdown folgen Lockerungen und wieder Lockdown.
Unheil und Heil. Wohl und Wehe. Und einer (oder eine) muss die Ansagen machen. 

„Du, Menschenkind, weissage ... – So spricht Gott, der Herr:
Wehe den Hirten Israels, die sich selbst weiden! Sollten die Hirten nicht die Herde weiden?“
Da bereichern sich korrupte Politiker bei der Beschaffung von Corona-Schutzkleidung. 
Da drängen sich Menschen vor, die eigentlich noch gar nicht mit Impfen dran sind und auch nicht zu den Risikogruppen gehören.
Da gerät die internationale Gemeinschaft aus dem Blick, weil einzelne Länder bei der Impf-stoffverteilung Alleingänge machen.
Und weil der Wahlkampf eben doch schon begonnen hat, ist das Wohl der Herde in der Pande-mie nicht mehr zu trennen von den Interessen der Parteien und derer, die nach Ämtern stre-ben.
Und was die Kirchen betrifft: Da suchen viele Schäfchen das Weite, weil sie sich schon lange von den Hirten schlecht versorgt und verlassen fühlen. Nicht nur, aber auch in der Pandemie.
„Wehe den Hirten, die sich selbst weiden! Sollten die Hirten nicht die Herde weiden?“ - 

Wo ist denn Gott?
„Du, Menschenkind, weissage ... – So spricht Gott, der Herr:
Ich will mich meiner Herde annehmen und sie suchen. (...) Ich will meine Schafe weiden und ich will sie lagern lassen.“
Wie soll das aussehen? Gott kümmert sich selbst? 
Es sieht ja nicht danach aus.
Eine Pandemie  - wie aus dem Nichts. 
Tote, so viele Tote, dass es schwer wird,
sie mit Würde zu betrauern und zu beerdigen.
Heute – endlich – ein gemeinsamer Tag der Trauer in Berlin.
Kranke und Sterbende, so viele, dass wir nicht wissen, wie wir es schaffen sollen, sie ange-messen zu pflegen und zu versorgen.
Unsere alten Menschen allein, einsam und isoliert in den Pflegeheimen und in ihrem Zuhause.
Unsere Kinder, sozial verarmt und zu wenig gelernt 
In einem ganzen Jahr mit Corona.
Und die dazwischen entweder überarbeitet und / oder von Existenznöten bedroht.
Die Wirtschaft zunehmend geschwächt.
Der Ton in den internationalen Beziehungen schärfer, die nationalistischen Rufe lauter. 
Die internationale Solidarität kaum mehr als eine schöne Idee.
Wie soll das aussehen? Gott kümmert sich selbst? 
Es sieht ja nicht danach aus.

Es hat damals bei Ezechiel im Exil auch nicht danach ausgesehen. Es gab kein Anzeichen dafür, dass Gott sich kümmert. Der eine Teil des Volkes saß fest im Exil, ehrlich gesagt eine Gefan-genschaft de luxe, der andere Teil war völlig verarmt und demoralisiert im zerstörten Juda zurückgeblieben. Manche lebten in Ägypten, manche in Syrien, das Volk Gottes, die ganze Herde, war zerstreut in alle Welt. Die, die Verantwortung hatten, politisch und religiös, die schienen zum Hirten nicht zu taugen.
Die Gottesworte des Ezechiel – sie sind voller Sehnsucht in den Raum geworfen. Sie stellen sich der dunklen Realität entgegen und locken die Zukunft ins Hier und Jetzt.
Worte wie ein Silberstreif am Horizont.
Ezechiel hat eine Sehnsucht nach Heil und eine Erinnerung an das, 
was die Mütter und Väter von Gott zu sagen wussten.
Und daraus wird eine Vision, eine prophetische Rede:
Es ist so gewesen, es wird uns erzählt: Gott hat sich gekümmert. Und es wird wieder so sein: Gott kümmert sich. Wir sind Gott nicht egal. 

Gott sagt: „Ihr sollt meine Herde sein, die Herde meiner Weide, und ich will euer Gott sein“

Das ist die Hoffnung.
Wie ein Silberstreif am Horizont...
Impfstoffe. Nach nur einigen Monaten Forschung. Stark gekühlt oder weniger gekühlt. Einma-lig oder zweimalig verimpft hoch wirksam.
Keiner hätte das vor einem Jahr für möglich gehalten.

Wie ein Silberstreif am Horizont...
Unsere über 80jährigen sind zu einem großen Teil geimpft. Langsam verlassen sie die Häuser und sammeln sich wieder, mit FFP2-Maske und Schnelltest zwar, aber sie finden zurück in die Gemeinschaft. (In die Häuser von Kindern und Enkeln, in Kirchen und Museen).

Wie ein Silberstreif am Horizont...
In Israel sitzen sie in Cafes und Restaurants und tanzen auf den Strassen. Fast schon Her-denimmunität nach drei Monaten impfen.

Wie ein Silberstreif am Horizont...

Ezechiel hat Worte und Bilder der dunklen Realität entgegengestellt. Verheißungen. 
Und sie locken die Zukunft ins Hier und Jetzt. 
„Du, Menschenkind, weissage ... – So spricht Gott, der Herr:
Ihr sollt meine Herde sein, und ich will euer Gott sein.“

Ich will das Verlorene wieder suchen und das Verirrte zurückbringen und das Verwundete ver-binden und das Schwache stärken und, was fett und stark ist, behüten; ich will sie weiden wie es recht ist. Ja, ihr sollt meine Herde sein, die Herde meiner Weide, und ich will euer Gott sein, spricht Gott, der Herr.

Ezechiel wirft seine Worte in den Raum. 
Sie stellen sich der dunklen Realität entgegen 
und locken die Zukunft ins Hier und Jetzt.
Gott kümmert sich. Es gibt Schutz für die Herde.
So war das damals. So ist es – seitdem die Worte aufgeschrieben wurden – immer gewesen.

Ezechiel hatte damals einen im Blick: Einer wie David müsste es schon sein. Einer, der die Herde kennt von Kindesbeinen an. Der nur mit der Steinschleuder Raubtiere vertreiben kann, der aus demselben Stall kommt, der den Geruch seiner Schafe angenommen hat und seine Schäfchen ins Trockene bringen kann, die Herde schützt.
Ja, einer wie David müsste es schon sein.

Einer wie David ist gekommen.
Das haben andere Jahrhunderte nach Ezechiel erzählt.
Durch die Jahrhunderte sind sie der Verheißung des Ezechiel gefolgt und haben Gottes DNA in Jesus aus Nazareth entdeckt. Und die Botschaft ist die alte: Will Gott ein guter Hirte sein, so muss Gott sich unter die Herde mischen. Den Geruch der Herde annehmen. Teil des Ganzen werden. Im Stall geboren werden. Weiden ohne festen Wohnsitz. Getrieben und gejagt sein von Feinden und Ängsten. Verloren, verirrt, verwundet. Jesus, der Christus. Er kennt seine Herde und sie kennen ihn. Jesus Christus, der gute Hirte, der sein Leben lässt für die Schafe.

Einer wie David, so erzählen wir es seit 2000 Jahren, ist gekommen.
Unser Silberstreif am Horizont. Gott kümmert sich.
Seitdem suchen wir Spuren Gottes auch in den tiefsten Tälern und geben die Sehnsucht nicht auf und sehen den Silberstreif am Horizont.
Um uns herum das gleiche Leben, aber wir sehen es mit einem anderen Blick. Mit Hoffnung.

Und sehen den Silberstreif am Horizont, wenn Herr Kampmann wieder sein Haus verlässt und Susanne ein gesundes Baby zur Welt bringt und für Lara Impfstoff gefunden wird. 

Und sehen den Silberstreif am Horizont, weil wir auch nicht-korrupte Politiker kennen und nicht jeder mit der Pandemie Wahlkampf macht. 

Und sehen den Silberstreif am Horizont, weil die Schafe nicht doof sind und schon wissen, dass Gott ihr Hirte ist und Bischöfe und Pfarrer nicht das letzte Wort haben werden. 

Gott wird das Verlorene wieder suchen und das Verirrte zurückbringen und das Verwundete verbinden und das Schwache stärken und, was fett und stark ist, behüten.
Gott wird unser Gott sein. Und wir die Menschen, die Gott liebt.

Und dann, wenn diese Pandemie bekämpft ist und endlich hinter uns liegt, werden wir essen und trinken und auf den Tischen tanzen.
Und wir singen so laut wir können und verteilen die Aerosole großzügig untereinander. 
Aus den Masken bauen wir Nester für die Vögel und 
Hängematten für das Eichhörnchen.
Wir malen weiterhin die Steine bunt an und bauen die Radwege aus.
Und erzählen von unseren Toten und trocknen uns gegenseitig die Tränen.
Das Wort des Jahres heißt Herdenschutz. 
Und Lara trägt das Wort als Tattoo links über der Brust. Susanne zählt jeden Abend mit ihrem Kind beim Einschlafen die Schafe. Herr Kampmann hat eine Seniorengruppe mit den Namen „Die Herdentiere“ gegründet.
Und abends um 19 Uhr, da stehen sie alle auf dem Balkon und lachen dem Tod ins Gesicht und singen „Halleluja“!

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne, in Christus Jesus, unserem Herrn. Amen.
 

Es gilt das gesprochene Wort.
 

13.04.2021
Pfarrerin Dr. Anne Kathrin Quaas