„Kreuzmomente zwischen Abgrund und Gipfel“

Evangelische Stadtkirche Laubach

„Kreuzmomente zwischen Abgrund und Gipfel“
Live-Übertragung aus der Evangelischen Stadtkirche, Laubach
07.04.2023 - 10:05
03.01.2023
Pfarrer Jörg Niesner
Über die Sendung:

An Karfreitag denken Christinnen und Christen an Jesu Tod am Kreuz. Für Jesu Begleiter damals war es der Nullpunkt. Auch heute blicken Menschen an Tiefpunkten auf das Kreuz: bei Verlust, Krankheit oder Sorgen über Kriege und Krisen. Worte und Musik dieses Karfreitagsgottesdienstes stellen sich diesen Fragen und Nöten. Sie finden Spuren und Momente, wo das Kreuz zum Hoffnungszeichen auf neues Leben wird.
Pfarrer Jörg Niesner verbindet in seiner Predigt die Passionsgeschichte Jesu mit seinen Erfahrungen als Notfallseelsorger. Er sagt: „Unser Leben bewegt sich zwischen Tiefpunkten und Höhenflügen. Bin ich nah an einem Nullpunkt? Oder geht es aufwärts zu den Höhen des Lebens? Das Kreuz Jesu umfasst alle diese Momente.“

Orgel (Anja Martine) und Cello (Viktoria Krastev) interpretieren Stücke u.a. von Franz Schubert, Frédéric Chopin und des spanischen Cellisten Pablo Casals. Es singen die Gottesdienstbesucher, unterstützt und im Wechsel mit der Singgruppe der Kirchengemeinde. Die musikalische Leitung hat Dekanatskantorin Anja Martine.

Gottesdienst nachhören:
Feedback zur Sendung? Hier geht's zur Umfrage! 
 
Predigt zum Nachlesen:

I

Am Straßenrand erinnern oft Kreuze an diejenigen, die dort bei schweren Verkehrsunfällen ums Leben gekommen. Bei vielen dieser Unfälle bin ich als Notfallseelsorger vor Ort gewesen, alarmiert von der Rettungsleitstelle. Ich habe Menschen in den schlimmsten Momenten ihres Lebens begleitet. Seitdem verbinde ich mit vielen Orten, Straßen und Häusern, an denen ich vorbeifahre, Situationen aus dieser Arbeit. Ich denke an die oft unfassbaren Schicksalsschläge, die Menschen ereilt haben. Ich erinnere mich an die bleichen Gesichter der Feuerwehrleute, an grelles Scheinwerferlicht, an das Rattern der Motoren der Einsatzfahrzeuge.  An Angehörige der Unfallopfer, in Decken gewickelt. Oft sind sie nicht einmal in der Lage zu weinen. Menschen am Nullpunkt ihres Lebens. Daran erinnern mich die Kreuze am Straßenrand immer wieder.

Mit diesen Erfahrungen aus der Arbeit in der Notfallseelsorge stelle ich mir die Jüngerinnen und Jünger von Jesus vor. Jesus hatte mit seiner großen Hoffnung ihr Leben verändert und unendlich bereichert. Und dann haben sie mit ansehen müssen, wie ihr lieber Freund, Meister und Lehrer Jesus, gequält, gedemütigt und ans Kreuz genagelt wurde. „Hier muss doch der Himmel eingreifen!“, mögen sie gedacht haben. Das darf nicht sein und das kann auch nicht sein!

Sie hatten doch gespürt und geglaubt: Dieser ist wirklich Gottes Sohn! Deshalb hatten sie alles hinter sich gelassen, um diesem Mann, ihrem großen Lehrer des Lebens, nachzufolgen. Sie haben durch Jesus Gottes Liebe erfahren und sie haben seine Wunder erlebt. Nun, unter seinem Kreuz, haben sie vielleicht einen letzten Funken Hoffnung, dass Gott wundersam eingreift. Dass sich der Himmel öffnet und Jesus vom Kreuz steigt. Immer kleiner wurde dieser Hoffnungs-Funken – so stelle ich es mir vor. Und am Ende: Jesus neigt kraftlos sein Haupt – und stirbt. Unter den Augen seiner Mutter und seiner Jüngerinnen und Jünger. Der Nullpunkt. Und dann: Leere Augen, selbst zum Weinen zu leer. Damals bei den Frauen und Männern, die unter dem Kreuz stehen oder von ferne zuschauen. Leere Augen, kein Weinen auch überall dort, wo Menschen heute am Nullpunkt sind. Auf der Landstraße. Im Krankenhaus. Im Krieg.

 

II

An einen Tag als Notfallseelsorger erinnere ich mich besonders. Es war ein schwerer Verkehrsunfall mit zwei Toten. Da war es wieder:  Schreie, Chaos, bleiche Gesichter. Und da, mitten auf der Straße zwei Metallsärge.
Ich stellte mich vor die Särge und begann, das Vaterunser zu beten. Laut.
Und dann wurde es plötzlich still. Die Einsatzkräfte und Ersthelfer kamen aus allen Richtungen zusammen. Sie stimmten ein in das Gebet. Vielen wurden die Augen feucht. Mir auch. Es war deutlich spürbar: Etwas hatte sich verändert. Wir beendeten das Gebet unter Tränen. Etwas hatte sich gelöst. Der Tod – er war real. Und hart. Und grausam. Und wir konnten ihn nicht verhindern. Aber unsere Ohnmacht wurde durchbrochen von unserem Gebet. Wir konnten etwas tun. Und dieses Etwas stellte das Geschehene in einen anderen, einen größeren Zusammenhang.

Wenn ich dort vorbeifahre, schaue ich auf die beiden Kreuze, die nun an dieser Stelle stehen und an diese Nacht erinnern. Sie stehen für den Tod, der so erbarmungslos über alle hereinbrach. Aber sie stehen auch für diesen Hoffnungsmoment: einen Funken Auferstehungshoffnung an diesem Nullpunkt.

Damals, als Jesus am Kreuz gestorben ist, gab es diesen Moment der Hoffnung für die Jüngerinnen und Jünger noch nicht.
Wir aber wissen um den dritten Tag, um den Ostermorgen.
Es ist gut, wenn wir in den Nöten unseres Lebens, an den Tiefpunkten daran erinnern. Das Kreuz Jesu wurde zum Zeichen der Hoffnung. 

Wir hören jetzt das Cello mit Musik von Johann Sebastian Bach. Danach spreche ich davon, wie ich das erlebe, dass das Kreuz zum Hoffnungszeichen wird. Die Aussagen von jungen Leuten hier in Laubach haben mich überrascht, die Konfirmandinnen und Konfirmanden.

 

III

In unserer Gemeinde ist es üblich, dass die jungen Leute zur Konfirmation ein Geschenk der Gemeinde bekommen. Meine Konfirmandinnen und Konfirmanden fragten: Was bekommen wir eigentlich geschenkt? Sie waren sich schnell einig: „Wir fänden eine Kette mit einem Kreuz daran toll.“ Das hat mich überrascht: eine Kreuzkette. Ausgerechnet das klassischste aller Konfirmationsgeschenke.

Mir fällt mir auf, viele Menschen ein Kreuz nah bei sich tragen – sei es als Kette, an einem Armband oder gar als Tätowierung.
Kein anderes Symbol hat so viele unterschiedliche Bedeutungen wie das Kreuz.
Es steht als Folterinstrument für den Tod und die Trauer.
Und zugleich für die Hoffnung und die Nähe Gottes.

Unser ganzes Leben bewegt sich in diesen Gegensätzen: Es gibt in jedem Leben Tiefpunkte und Höhenflüge. Und dann stellt sich die Frage: Wo bin ich gerade? Bin ich nah an einem Nullpunkt? Oder geht es aufwärts zu den Höhen des Lebens? Stehe ich mit Tränen in den Augen an einem Kreuz? Oder fühle ich mich dem Himmel nah? Schnürt mir das Leben die Luft zum Atmen ab? Oder atme ich frei, in die Weite?

Das Kreuz Jesu umfasst alle diese Momente: Oben und unten. Sie haben immer miteinander tun.
Wenn du unten bist, wirst du erinnert an die Gipfel. In Momenten, wo es in dir eng ist, verheißt das Kreuz die Weite und Fülle des Lebens in Gott.
Und auch umgekehrt gilt: Wenn du Oben bist, vergisst du nicht, dass du Mensch bist. 
Dieses Oben und unten umfasst das ganze Leben. Deshalb kommt, wenn wir an das Kreuz denken, unser ganzes Leben in den Blick.

Nichts und niemand ist fern von Gott. Weder die nicht, die sich am Leben freuen. Aber erst recht nicht die, die unterdrückt werden, und auf Gerechtigkeit hoffen. Nicht die, die trauern und Trost brauchen. Die krank sind und auf Heilung hoffen.
Gott am Kreuz, in den Tiefen, und auch in den Höhen. Im Leben und im Tod Jesu sehen wir, dass Gott das alles auf sich genommen hat. Getragen hat.
Heuet am Karfreitag erinnern wir an den absoluten Nullpunkt auf Golgatha. Und wir hoffen darauf, dass Gottes Weg mit uns nicht in der Unterdrückung, nicht in Gewalt, nicht in Krankheit, nicht im Tod endet, sondern dass Gott uns Leben schenkt.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle menschliche Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn.

Amen

 

Es gilt das gesprochene Wort.

03.01.2023
Pfarrer Jörg Niesner