Niemandsland

Kapelle der Versöhnung

Kapelle der Versöhnung

Niemandsland
Rundfunkgottesdienst aus der Kapelle der Versöhnung Berlin
03.10.2021 - 10:05
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Liebe Hörerinnen und Hörer, liebe Schwestern und Brüder, und im Garten….

„Willkommen im Garten Eden!“ - so hat mich vor ein paar Tagen Petra begrüßt, eine Frau aus unserem Gartenteam. Sie hatte Recht: es war ein taufrischer Morgen. Das Gemüse ist üppig gewachsen. Unsere Blumenstauden blühen um die Wette, in allen Farben. Herbstbeginn.

 

Berührend war für mich Petras Gruß nicht nur, weil auf den 1.000 Quadratmetern Brachland hinter unserer Kapelle der Versöhnung, in der wir heute gemeinsam mit Ihnen Gottesdienst feiern, wirklich ein Paradies gewachsen ist. Berührend war es, weil uns im Team vom Gemeinschaftsgarten die Vergangenheit dieser Brache mitten in Berlin vertraut ist. Hier war kein Garten Eden. Sondern der Todesstreifen. Geteiltes Land.

 

Bis heute ist das Gelände begrenzt von der „Hinterland-Mauer“. Oft sprechen uns im Garten Leute an, und fragen, ob die bemalte Betonwand da hinten noch ein Stück „echte Berliner Mauer“ wäre. Dann merken wir, dass unser Garten auch ein Lern-Ort ist. Für Zeitgeschichte. Und für den Wandel. Die Zerrissenheit von Berlin, die Zerrissenheit unseres ganzen Landes, hatte sich eingegraben in dieses Stück Erde. Nun atmet es wieder auf, sechzig Jahre nach dem Bau der Mauer.

 

 

Bernd Schumann (Leitungsteam des Gartens):

„NiemandsLand" so haben wir unseren Garten genannt. Wir, mitten in Berlin, aus den Kirchengemeinden Am Weinberg und Versöhnung. Und das war unser Ziel: "Niemandem allein" soll diese Stück Land gehören. Unser Garten soll einer für alle sein. Für alle, diesseits und jenseits der alten Grenzen zwischen Ost- und West-Berlin. Für uns, die wir hier in der Nachbarschaft leben und gemeinsam gärtnern. Und für alle, die uns besuchen aus aller Welt. Der Name NiemandsLand denkt das Gestern und Heute zusammen: Vom Niemandsland im Kalten Krieg zum freien Niemands-Land heute. Wo einst geschossen wurde, blüht heute wieder Leben.

Von alters her steht ein Garten für den guten Anfang: für den Glauben, dass es am Ende gut ausgeht. Unser Garten ist so auch ein spirituelles Zeichen. Hier erleben wir, dass sich Gegenwart und Vergangenheit versöhnen. Dass verloren geglaubtes Land zu neuem Leben erwacht. Dass nichts bleiben muss, wie es war, und sei es noch so zementiert. Das macht uns zu Gärtnerinnen der großen Verheißung Gottes, die uns heute am Erntedankfest ins Gedächtnis gerufen wird, wenn uns versprochen ist: Dass „nicht aufhören wird Saat und Ernte, Sommer und Winter".

Die Saat ist ein zentrales Wort im Bibeltext für diesen Erntedanksonntag. „Gott gibt euch Saat in die Hand“, schreibt Paulus. Und fügt hinzu: „Wer zu sparsam sät, wird ärmliche Ernte haben. Wer aber im Vertrauen auf Gottes Reichtum aussät, was er hat, wird eine reiche Ernte einbringen“. Was bedeutet das für unser Leben:

 

Aussäen, was ich geschenkt bekam. Nichts zurückbehalten.

Darauf vertrauen, dass zu meiner Hingabe ein Empfangen kommt.

Es klingt einfach. Und stellt unser Aufrechnen des Verlorenen infrage.

 

Gerade am Tag der Einheit liegt das Aufrechnen in der Luft.

Ich merke es in Gesprächen mit Menschen jener Generation,

die in Ostdeutschland bereits erwachsen waren, als die Mauer gebaut wurde.

Als sie stürzte, drei Jahrzehnte später, waren sie nicht mehr jung genug,

unbeschwert in die neue Freiheit hineinzuleben.

 

Leicht verfestigen sich Erzählungen vom Verlust: 

Von verlorener Arbeit. Vom vermissten Zusammenhalt.

In unserer Gemeinde ist die Erinnerung wach

an die verlorenen Häuser an der Bernauer Straße,

mit den vermauerten Fenstern.

Und zuletzt - die Sprengung der Kirche im Grenzstreifen.

Die Bilder gingen damals um die Welt.

 

Als der Kirchturm verschwunden war,

ragten umso mehr die Wachtürme in den Blick.

Einer dieser Beobachtungstürme ist erhalten,

er gehört zur Mauer-Gedenkstätte, nahe unserer Kapelle.

 

In einer Besuchergruppe blieb neulich ein Mann aus Dresden zurück,

als ich bei der Führung auch über die Grenzanlagen sprach.

Er war bewegt, und blieb stehen vor dem Wachturm.

„Es war Anfang der Siebziger“, erzählte er,

„da war ich genau hier zum Dienst eingeteilt“.

 

Niemand habe zuvor gewusst, an welchem Mauerabschnitt der Einsatz war.

Es wechselte jeden Tag. Hier an der Bernauer Straße

mit dem unübersichtlichen Grenzgelände

zwischen den Friedhöfen und den Wohnstraßen

war die Angst am größten: Die Angst, dass etwas passiert.

Wenn jemand flüchtet, von den eigenen Kameraden.

Oder ein Fremder.

 

„Ich bin dankbar“, sagte er, „dass ich kein einziges Mal schießen musste“.

Seine Stimme zitterte. Es ist ein halbes Jahrhundert her. Für ihn war es wie gestern.

Was ist die Saat jener Jahre? Fragen bleiben:

Was ist aufgegangen von unseren Wünschen nach Frieden?

War es tatsächlich Sehnsucht nach dem Zueinanderfinden der Menschen?

Oder prägte pragmatisches Kennenlernen die drei Jahrzehnte nach 1990?

 

Im besten Falle erzählten wir uns in Ost und West

die Geschichten, die uns prägten. Und tun es noch.

Diese Geschichten sind für mich der wichtigste Anteil der Saat,

mit der wir die Gegenwart gestalten –

im Blick auf die gute Zukunft, die verheißen ist.

 

Ganz wörtlich ist die Roggen-Saat zu verstehen, die der Bildhauer und Steinmetz Michael Spengler vor 16 Jahren als Kunst-Aktion hier auf dem Kirchengelände an der Bernauer Straße ausgesät hatte. Er kommt hier mit seiner Geschichte zu Wort:

 

Michael Spengler:

Im September 2005 haben wir die erste Saat ausgebracht, und im Juli 2006 die erste Ernte eingefahren. Heute wird das Roggenfeld von der benachbarten Humboldt-Universität bearbeitet und wissenschaftlich betreut.

 

Das Korn wächst hier im ehemaligen Todesstreifen und erinnert an die deutsche Teilung, ohne sie zu verleugnen. Im Gegenteil, durch das Wachsen des Roggens wird der alte Postenweg viel plastischer. Die Mauer sollte eine Ewigkeit stehen, wurde aber schon nach einer Generation von Menschen überwunden. Nach der Friedlichen Revolution wurde aus dem Todesfeld wieder ein Ackerfeld.

 

Über das Feld hin sehen wir den Elisabethfriedhof mit seinen Gräbern. Auch er lag damals zum Teil im Niemandsland. Als künstlerischer Ausdruck von Säen, Wachsen und Vergehen, von Vergänglichkeit und Ewigkeit, hat das Feld nun seinen Platz gefunden am Erinnerungsort der Berliner Mauer.

 

 „Gott gibt euch Saat in die Hand“, schreibt Paulus in seinem Brief.

Er schreibt vom Säen und Verschenken ohne Geiz

vor dem Hintergrund eines Konflikts, der ihn zerrissen hat.

Kleinliches Aufrechnen hatte ihn mürbe gemacht:

Wer die größte geistliche Autorität haben würde in Korinth.

Er, der Gründer der Gemeinde, oder nachgefolgte Missionare?

Von der Urgemeinde in Jerusalem spürte er

die Bitte im Nacken, auf seinen Missionsreisen

Geld zu sammeln – für die Gemeinden in Palästina.       

Manche in Korinth streuen das Gerücht,              

er würde das Geld für sich selbst behalten.

Paulus ist tief gekränkt.

 

Und schreibt doch seinen Brief nach Korinth.

Er ist es gewohnt, in einer geteilten Welt zu leben:

Zwischen den neuen Gemeinden in Griechenland und Mazedonien –

und - Jerusalem, von wo er aufgebrochen war, pendelt er.

Die Ereignisse dort, mit Jesus von Nazareth,

liegen zur Zeit seines Briefes drei Jahrzehnte zurück.

 

Was nehmen wir mit von seinen Gedanken, 

wenn wir heute auf über drei Jahrzehnte blicken,

in denen unser Land seine politische Einheit wiederfand,

und seitdem seine Zerrissenheit zu heilen versucht?

 

 „Gott gibt euch Saat in die Hand“, schreibt Paulus. 

Was würde das bedeuten, für das Zusammenwachsen unseres Landes?

Neben allen Vorhaben, die sich eine nach der Bundestagswahl

neu findende Politik vornehmen kann,

neben allen Initiativen von privatem und

bürgerschaftlichem Engagement

weist Paulus mit seinem Satz auf das Unverfügbare: 

Die Gotteskraft ist für ihn Urgrund aller Einheit.

Er wirbt leidenschaftlich dafür,

im Vertrauen auf Gott in unserer Zeit zu leben.

 

 „Was wird aber da wachsen“, wo unsere Saat hinfällt?“, fragt Paulus. 

Seine Antwort lautet: „Dankbarkeit“.

 

Damit beschreibt er eine Erfahrung,

die niemand verordnen kann, weder zum staatlichen Tag der Einheit,

noch zum kirchlichen Erntedankfest. 

Dankbarkeit entsteht von selbst –

aus dem inneren Reichtum, aus der Gewissheit, beschenkt zu sein.

 

Wenn ich an gestern denke,

als wir hier neben unserer Kapelle im Projekt NiemandsLand

wieder den monatlichen Garteneinsatz hatten, spüre ich diesen Reichtum.

Hier an der Mauer, die ich als Ost-Berliner

erst im Rentenalter hätte überschreiten dürfen,

gärtnern wir jetzt fröhlich im alten Grenzstreifen, mit 55 Menschen. 

Sie kommen von vielen Kontinenten, aus 15 Ländern. 

 

Sie erzählen einander die Geschichten ihrer Heimat,

aus Syrien und dem Irak; aus Polen und Italien,

aus Afghanistan und der Schweiz,

aus der Türkei und dem Libanon. 

Aus Brasilien, China, und Russland.

Mit diesen geteilten Geschichten beschenken wir uns.

So gibt Gott Saat in die Hand. Dankbarkeit wächst. Ganz von selbst.

 

Es gilt das gesprochene Wort.