Predigt zum Nachlesen:
I
Selbstbild
Jede und jeder von uns hat eins. Ein Bild von sich selbst. Viele teilen es auch gerne auf sozialen Netzwerken. Und auch wenn wir von der Richtigkeit dieses Bildes überzeugt sind, muss es nicht zutreffen. Von wegen: So bin ich. Oder: So will ich sein. Wer weiß schon, ob das Bestand hat, ob wir diesem Bild von uns selbst immer gerecht werden. Vor der Szene der Verleugnung Jesu durch Petrus können wir im Evangelium lesen, welches Bild Petrus von sich selbst hatte. Da spricht er heroische Worte von seiner unverbrüchlichen Treue zu Jesus. Für uns, die wir wissen, wie die Geschichte weitergeht, haben die Worte des Petrus einen tragischen Klang. Und ich frage mich, wie sieht es mit meinem Selbstbild aus, welcher Prüfung hält es stand? Die Geschichte von Petrus zeigt mir: Wer wir wirklich sind, tritt paradoxerweise in den dunklen Stunden ans Licht. In der Bibel steht:
Jesus sprach zu Petrus: Simon, Simon, siehe, der Satan hat begehrt, euch zu sieben wie den Weizen. Ich aber habe für dich gebeten, dass dein Glaube nicht aufhöre. Und wenn du dereinst dich bekehrst, so stärke deine Brüder. Er aber sprach zu ihm: Herr, ich bin bereit, mit dir ins Gefängnis und in den Tod zu gehen. Er aber sprach: Petrus, ich sage dir: Der Hahn wird heute nicht krähen, ehe du dreimal geleugnet hast, dass du mich kennst.
Es gibt Geräusche, die vergisst man nie. Der erste Schrei eines Kindes nach der Geburt, der Knall des Aufpralls beim Zusammenstoß mit einem anderen Auto, der ganz leise letzte Atemzug eines Menschen. Solche Geräusche bleiben unauslöschlich in unserem Gedächtnis. Wir können sie hören, auch wenn sie gar nicht ertönen. Oft können wir sie dann nicht einfach abstellen wie ein Radio. Diese Geräusche gehören zu uns. So gehört der Hahnenschrei zu Petrus. Er konnte danach sicher nie mehr einen Hahn schreien hören, ohne sogleich wieder in jene Nacht zurückversetzt zu werden, in der er Jesus verleugnet hat. Die Nacht, in der seine Geschichte mit Jesus für ihn ans Ende gekommen schien. Die Nacht, nach der für ihn kein neuer Morgen vorstellbar war. Der Hahn krähte, aber für Petrus war es keine Ankündigung eines neuen Tages, sondern das Ende von Allem.
„Die Zeit danach sie ist so schwer, alles unbegreiflich, so eine Schmach, was soll das hier, war das unausweichlich“ – so hat die Band vorhin diese Stimmung besungen.
All das klingt mit in dem Hahnenschrei, den Petrus hört. Für ihn bleibt dieses Geräusch immer mit der Erinnerung seines Versagens verbunden.
Aber auch in jener Nacht gilt:
Der Hahn ist ein Wecker, sein Ruf ein Weckruf. Er gibt dem neuen Morgen eine unüberhörbare Stimme. Wenn wir den Wecker hören und uns aus dem Bett quälen, dann braucht es Zeit, bis wir im neuen Tag ankommen. Wenn wir vor dem Spiegel stehen und in unser Gesicht schauen, dann erzählt es nicht nur von der vergangenen Nacht, sondern auch von den vergangenen Jahren. Die Falten erinnern uns an die Sorgen und an das Lachen in unserem Leben. Wer bin ich? Wer will ich sein? In dem Moment, in dem die Tränen über das Gesicht von Petrus rollen, mag er vor seinem inneren Spiegelbild gestanden haben. Das Leugnen, das Versagen in dieser Nacht – und zugleich die intensive gemeinsame Zeit mit Jesus und all den anderen an seiner Seite.
Die Band hat gesungen: „Viel durchgemacht – kein Weg zurück – manches war unglaublich – Tränen gelacht – was für ein Glück – davon gab es reichlich.“
Der Hahn schreit. Ob er für Petrus für alle Zeit nur nachklingen lässt, wovon er sich abgewandt hat? Oder ob für ihn in diesem Ruf irgendwann auch der neue Morgen zu hören sein wird:
„Was auch geschehn – ich kann es spürn – es wird sich drehn – Gott wird uns führn“?
II
Dazugehören
Wer wir sind, wird auch immer davon bestimmt, zu wem wir gehören. Zusammengehörigkeit, Zugehörigkeit gibt nicht nur Stärke und Halt, sondern auch Identität. Für Petrus war es ein Teil seiner Identität, zu Jesus zu gehören, sein Jünger zu sein. Felsenfest schien seine Beziehung zu ihm. So mag Simon den Beinamen Petrus, der Fels, vielleicht auch mit Stolz, auf jeden Fall mit Selbstbewusstsein getragen haben. Aber wie ist es, wenn wir aus einer Gemeinschaft keinen Gewinn mehr für uns ziehen können? Ja, wenn uns gar Belastung, Gefahr, Leid drohen, weil wir dazugehören?
Das Kalkül des Geschäftssinns, der nach dem Nutzen fragt, durchdringt und verändert auch unseren Gemeinsinn. Stehen wir unverbrüchlich zu einer Gesellschaft, die die Würde des Menschen für unantastbar hält, auch wenn das etwas kostet?
Stehe ich zu dieser Demonstration für Demokratie und Menschenrechte, auch wenn ich nicht einer unter Zehntausenden war in Hamburg, Berlin oder Köln, sondern in meiner Kleinstadt auf die Straße gegangen bin, wo man mich kennt? „Du warst doch auch dabei, oder?“
Womöglich zerfällt mancher Fels, der Halt geben sollte und wollte, im Dunkel der Nacht zu feinem Staub, der nur noch eine Spur von dem ist, was er einmal war. Immerhin eine Spur. Wie haben sie Petrus eigentlich erkannt im Halbdunkel, unter all den andern im Hof, nur ein flackerndes Feuer in der Mitte? Der Staubforscher Jens Soentgen konnte zeigen, dass jeder Mensch seine ihm eigene Staubwolke hat, die verrät, woher er kommt. Die Redewendung vom Stallgeruch, der einem anhaftet, ist nicht nur ein Bild, sondern ein sinnlich wahrnehmbares und wissenschaftlich belegbares Phänomen. Vielleicht ist es dieser „Stallgeruch“ gewesen, der Petrus trotz Dunkelheit verraten hat?
„Du bist auch einer von denen.“
Wir können unsere Herkunft nicht verleugnen, selbst wenn wir uns wegducken und am liebsten nicht erkannt werden wollen. Selbst ganz am Ende, wenn wir zu Staub zerfallen sind, kündet dieser davon, dass wir Menschen waren.
Als der Sportmoderator und Publizist Marcel Reif am 31. Januar im Bundestag zur Gedenkstunde der Opfer des Nationalsozialismus spricht, berührt er die Zuhörer tief. Er ist Angehöriger der zweiten jüdischen Opfergeneration. Sein Vater hat den Holocaust überlebt. Marcel Reif erinnert sich an eine glückliche Kindheit. Und er zitiert seinen Vater mit der Ermahnung: „Sei ein Mensch!“
Unser Stallgeruch verrät uns, selbst in den dunklen Stunden, wir sind Menschen. Wir sind Menschen, wie der Menschensohn, Jesus von Nazareth. „Aber Petrus sagt: Mensch, ich bin`s nicht!“ Und Petrus ist mit dieser Verleugnung nicht allein! Wie viele stimmen ein mit Worten und Taten? Mensch? – Ich bin´s nicht!
Darum berührt die Ermahnung des Vaters von Marcel Reif so tief: Sei ein Mensch!
III
Ein Augenblick reicht für Tränen und ein neues Bild
Wann wird Petrus bewusst, dass nicht nur sein Selbstbild zerstört ist, sondern sein Menschsein selbst? Durch seine Verleugnung hat er sein menschliches Leben gerettet, aber seine Menschlichkeit geopfert.
Dreimal hat er die Zugehörigkeit zu Jesus geleugnet. In diesem Moment nimmt Jesus die von Petrus geleugnete Verbindung wieder auf, indem er sich umblickt, ihn anschaut. Ein Augenblick, der alles erkennt und erkennen lässt. Und die Tränen von Petrus zeigen, die Verbindung ist immer noch da. Verleugnet, aber nicht verloren, weil Jesus ihn nicht verloren gibt.
„Und alsbald, während er noch redete, krähte der Hahn. 61Und der Herr wandte sich und sah Petrus an. Und Petrus gedachte an des Herrn Wort, wie er zu ihm gesagt hatte: Ehe heute der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen. 62Und Petrus ging hinaus und weinte bitterlich.“
In den Tränen des Petrus kommt nicht nur seine verzweifelte Erkenntnis hoch, dass er nicht nur Jesus, sondern auch sich selbst aufgegeben hat. Die Tränen sind auch Spiegelfläche. Spiegelfläche für den Blick Jesu, der Petrus nicht aufgibt. Spiegelfläche für den ersten Lichtstrahl nach einer durchweinten Nacht. Ein Licht, das schon von Ostern kündet. Vielleicht durchbricht es die Tränen und lässt für einen Moment die Farben des Regenbogens erkennen, Zeichen für den unverbrüchlichen Bund Gottes mit uns Menschen.
Mir zeigt die Geschichte von der Verleugnung des Petrus, dass es gerade die dunklen Stunden sind, die ans Licht heben, wer wir sind. Aber auch, dass diese enttäuschende Selbsterkenntnis nicht das Einzige und Letzte ist. Es ist nicht unser Blick, der letztgültig feststellt, wer wir sind.
Es ist Jesu Blick auf uns, der sich in unseren Tränen spiegelt und eine Hoffnung zeigt.
Mag sein, diese Hoffnung kommt nicht aus uns, aber sie kommt auf uns zu. Sie kommt auf uns zu, wenn wir keinen Weg sehen, der weiterführt, wenn unsere Füße nur Wüstensand spüren und unsere Augen nur leeres Niemandsland erblicken. Dann erscheint da in diesem Moment, in dem wir den Blick Jesu auf uns spüren, eine Spur, die uns eine neue Perspektive eröffnet. In diesem Sinne lässt dieser Sonntag etwas aufscheinen, was uns von Ostern her entgegenleuchtet. Wir stehen in der Mitte der Passionszeit, zwischen Dunkel und Licht, zwischen Verzweifeln und Vertrauen – und sehen schon ein Licht. Das Licht der Liebe Gottes, die uns nicht aufgibt. Wir sind Menschen, wir gehören zu dem Menschensohn. Auch wenn wir es manchmal nicht zeigen, es soll, es wird sich zeigen.
Amen
Es gilt das gesprochene Wort.
Pfarrer Dr. Titus Reinmuth
Stellv. Evangelischer Rundfunkbeauftragter beim WDR
Evangelisches Rundfunkreferat NRW
Haus der Landeskirche
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