Liebe Gemeinde daheim und hier in der Kirche,
manchmal fällt der Karfreitag auf einen Donnerstag.
So erzählt Ivan, ein junger Mann aus Lwiw, 27 Jahre alt.
Es ist Donnerstag, der 24. Februar…
„Ich wurde um 7 Uhr morgens von meinem Handy geweckt. Meine Mutter war dran und sagte: ‚Ivan, steh auf, der Krieg hat angefangen! Das werde ich nie vergessen.
Ich stand fassungslos da. Krieg, ein echter Krieg – das war etwas, was ich mir nicht vorstellen konnte. Ich meine, wir sind doch im 21. Jahrhundert.“
Seit 7 Wochen wütet dieser Krieg – fassungslos, betroffen und beschämt stehen wir da, genauso wie die Menschen unter dem Kreuz.
An diesem Karfreitag hängt Jesus nicht nur am Kreuz – er sitzt auch in den Luftschutzkellern von Mariupol und in den U-Bahn-Schächten von Kiew;
er liegt unter den Trümmern der Wohnhäuser und blutüberströmt in den Straßengräben von Butscha.
Er stirbt denselben sinnlosen Tod wie die unschuldigen
Zivilisten in der Ukraine und den anderen Kriegsschauplätzen dieser Welt.
Mir geht dieser heutige Karfreitag ganz besonders nahe, Ihnen vielleicht auch…?!
Dabei berichtet der Evangelist Lukas:
Jesu Bekannte sehen ‚von ferne‘ zu…
Nicht aus der Nähe, sondern ‚von ferne‘ –
das ist für Lukas Programm: sachlich und nüchtern zählt er Fakten und Daten auf und zitiert, was gesprochen wird.
Was das Ganze bei den Betroffenen auslöst – was sie fühlen und empfinden, darüber berichtet er nichts.
Dieser geschundene Leib, dieser übergroße Schmerz, der röchelnde Atem – das haben sie damals nur ‚von ferne‘ ausgehalten. Näher ging nicht!
Aber es gibt auch eine andere Wahrheit!
Vom Gekreuzigten geht zugleich ein stummer Impuls aus: hinschauen, hingehen, dem Leidenden nahe sein, ihn berühren…
Ich habe es selbst erlebt: Es ist so schwer, an der Seite eines geliebten Menschen auszuhalten – ohne helfen zu können, ohne den Schmerz lindern zu können.
Dabei gibt es wohl keinen größeren Liebesdienst als den, bei einem anderen auszuhalten, ohne etwas ändern zu können;
die Hand halten – den Schweiß von der Stirn wischen, zärtlich über die Wange streichen…
Wieviel Liebe, wieviel Trost wird in solchen Momenten spürbar?!
Ich habe in diesen Tagen gelernt, die Leidensgeschichte Jesu mit anderen Augen zu sehen.
Der Evangelist erzählt, wie sich die Zuschauer über den Gekreuzigten lustig machen, ihn erniedrigen…
Die Leidensgeschichte Jesu ist auch eine Scham-Erzählung!
Schau-Lustige, die sensationslüstern auf das Leid eines anderen starren und sich dabei erregen…
Wehrlos ist da einer den Blicken der Menge ausgeliefert – wird bloßgestellt;
einer fängt an – und die anderen stimmen wie besessen ein – man stachelt sich zu immer neuen Boshaftigkeiten an… Ein Shitstorm der Demütigung…
Es ist die Logik der Niedertracht – ein teuflischer Mechanismus, der Menschen niedermacht und zugrunde richten kann.
Die Mobbingopfer in den Schulklassen und Betrieben, im Internet und in den sozialen Medien sind dem Spott und der Häme meist hilflos ausgeliefert…
Scham ist noch zerstörerischer als Schuld!
Scham trifft einen Menschen in seinem Innersten; raubt ihm die Selbstachtung – saugt die letzte Kraft aus.
Missbrauchsopfer können oft erst nach Jahrzehnten darüber sprechen, was ihnen in jungen Jahren angetan worden ist. Die Scham hat sie gelähmt, ihnen den Mund und die Seele versiegelt…
„Ich habe mich nicht nach Hause getraut – ich habe mich geschämt…“ erzählt Wilfried.
30 Jahre hat Wilfried gebraucht, ehe er die Kraft fand, aufzuschreiben, was ihm im Alter von 11 Jahren von einem Geistlichen angetan worden ist…
Auf dem Leidensweg Jesu geschieht dann etwas Überraschendes! –
Der gequälte, sterbende Jesus bittet für die, die ihn quälen und verspotten; er bittet für die teilnahmslosen Zuschauer; für die, die ihr blutiges Handwerk verrichten, und die Verantwortlichen im Hintergrund.
Er bittet für die, die nicht eingreifen und sich wegducken; und er bittet auch für uns, die wir all das Leid und Elend nicht mehr hören und sehen können…
„Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun…“
Ich finde das ungeheuerlich – und nicht nur ich!
Das ging schon den ersten Abschreibern der biblischen Texte so. In manchen frühen Handschriften wird diese Bitte um Vergebung einfach weggelassen.
Zu ungeheuerlich, unzumutbar – nicht zuletzt auch aus Sicht der Opfer!
Jesus beschämt die, die ihn demütigen und erniedrigen – er entlarvt ihre Schamlosigkeit, ohne mit gleicher Münze zurückzuzahlen!
Er verurteilt die Täter nicht – sondern richtet sie auf und nimmt ihnen ihre Schuld.
Er wendet sich seinen Peinigern zu – und diese Zuwendung gibt ihnen ihre Seele zurück…
Woher nimmt er die Kraft dazu?!
Ich glaube, er findet sie, indem er sich an Gott wendet:
„Vater…“.
Vergebung kann man nicht erzwingen. Man kann um sie bitten. Freilich geht die Bitte um Vergebung niemals an den Opfern vorbei!
II
Karfreitag. – Wir sehen uns die Bilder vom Leiden und Sterben Jesu an. Wir schauen zu – schauen hin, und plötzlich sind wir Teil dieser Geschichte…
Vor wenigen Tagen veröffentlichte die New York Times ein Foto aus dem Ukraine-Krieg.
Zu sehen ist eine Familie – die Mutter, ihre zwei Kinder, ein Mann, vermutlich der Vater der Kinder. Auf der Flucht wurden sie nahe Kiew von einer russischen Granate getötet. Sie liegen auf der Straße, wie Schlafende. Ukrainische Soldaten beugen sich über die Leichen, aber sie können nicht mehr helfen. Im Hintergrund ist ein teilnahmsloser Passant zu sehen…
In den Medien ist daraufhin eine heftige Debatte darüber entstanden: Darf ein solches Foto gezeigt werden?
Müssen wir das sehen?
Die Opfer haben ein Recht darauf, dass die Welt von ihnen erfährt. Wie sonst soll Mitleid entstehen, das zum Handeln führt? So sagen die einen.
Die anderen entgegnen, das sei respektlos und pietätlos. Die Getöteten würden auf diese Weise ein zweites Mal zu Opfern.
Ich frage mich: Welche Wirkung hat ein solches Bild?
Werden die Menschen dadurch mehr sensibilisiert, kommen sie dadurch zum Nachdenken – oder wird lediglich ihre Sensationsgier befriedigt?!
Bei Lukas lese ich: Beim Anblick des Gekreuzigten schlagen sich etliche an die Brust und kehren um; sie gehen anders, als sie gekommen sind.
Das, was sie sehen, bringt sie zum Nachdenken.
Sie stumpfen nicht ab – sondern werden sensibel;
werden herausgerissen aus ihrer Gleichgültigkeit;
aus Mitgefühl wird Solidarität – aus Passivität wird Hilfsbereitschaft, so wie wir es in diesen Tagen – Gott sei Dank! – in weiten Teilen unserer Gesellschaft erleben!
Für mich steht am heutigen Tag nicht das Bild des geschundenen und gefolterten Jesus im Vordergrund.
Das Entscheidende am Karfreitag sind für mich nicht die Schmerzen, die Gewalt und die Grobheiten, das Äußerliche, sondern etwas anderes:
Da ist ein Mensch, der in der Stunde allergrößter Not getröstet wird; der mutterseelenallein ist und sich doch nicht verloren vorkommt!
Der am Ende sagen kann: „Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist“ – und so in die Liebe Gottes hinein-stirbt.
Jesus stirbt in einem tiefen inneren Frieden – in völligem Gegensatz zu den furchtbaren äußeren Umständen seines Todes. Und nicht nur er!
Angehörige, die ihre Liebsten auf dem Leidensweg begleitet haben, erzählen oft: „Am Ende lag etwas Friedliches auf seinem – auf ihrem Gesicht. Ein Hauch von Erlösung!“
Einer, der in tiefem Frieden mit sich und seinem Gott gestorben ist – war Dietrich Bonhoeffer.
Der Pfarrer und Widerstandskämpfer des 3. Reichs steht uns Passauern in ganz besonderer Weise nah.
Wenige Kilometer von hier – in Schönberg im Bayerischen Wald – hat er die letzten beiden Nächte verbracht, bevor er zur Hinrichtung ins KZ Flossenbürg gebracht wurde.
Dort wurde er hingerichtet, am 9. April 1945 – nackt und bloß wie Jesus am Kreuz.
Seine letzten Worte: “Das ist das Ende – für mich der Beginn des Lebens“.
III
„Würden Sie lieber mehr lieben – und dafür mehr leiden? Oder weniger lieben und dafür weniger leiden? – Das ist, glaube ich, am Ende die einzig wahre Frage“.
Mit diesen Worten beginnt ein Roman mit dem Titel „Die einzige Geschichte“.
Ich glaube nicht, dass Jesus freiwillig das Leiden und den Tod gesucht hat.
Was ich aber weiß, ist: Er hat geliebt wie kein zweiter!
Sein Leben war eine einzige Geschichte der Liebe – Liebe zum Leben, Liebe zu den Mitmenschen, Liebe zu Gott, den er Vater nennt.
Dafür hat er gelebt, daran hat er geglaubt – dafür hat er bis zu seinem Tod gekämpft.
„Weniger lieben und dafür weniger leiden“ – ich kann mir nicht vorstellen, dass sich Jesus diese Frage je gestellt hat.
Die Liebe, die Jesus lebt, wird auf Golgatha wie unter einem Vergrößerungsglas sichtbar und sie verdichtet sich in drei Worten: Heute – du – mit mir! - „Heute wirst du mit mir im Paradies sein“.
Du mit mir. – Ich bei dir. Nirgendwo ist die Verbundenheit zweier Menschen tiefer als dort, wo sie im Schmerz, im Leid oder im Tod erfahren wird.
Vor wenigen Tagen bekomme ich einen Brief von einem Mann aus meiner früheren Gemeinde.
„Ich denke immer noch an die schweren Tage zurück, die eigentlich nicht aufhören,“ so schreibt er.
Seine Frau ist sehr jung gestorben. Ich habe ihn bei der Beerdigung und in den Monaten danach begleitet.
„Die Trauer dauert an“, so schreibt er, „und doch hat
sie sich verändert. – Für mich waren meine Erfahrungen mit Ihnen ausschlaggebend. Sie standen mir in dieser schwersten Zeit zur Seite…“
Mich hat das gefreut und berührt. Am Ort größten Schmerzes, im Moment tiefster Trauer entsteht eine Verbundenheit, die tröstet und trägt. Weil einer an der Seite eines anderen ausgehalten hat…
Dieses Aushalten ist es, was Jesus uns aufgibt, liebe Gemeinde.
Er ist gestorben, er hat ausgehalten, Für uns.
Halten wir es jetzt aus. Mit ihm!
Karfreitag geht mir deshalb so nahe – weil ich darin meine eigene Verletzlichkeit erkenne; weil ich mich selbst darin wiederfinde, mit meinen Fragen nach dem „Warum“, mit meiner Verunsicherung, meinen Zweifeln.
Wie verletzlich wir sind, wie zerbrechlich unser Leben ist – das haben wir in diesen zwei Corona-Jahren lernen müssen, das hat uns der Krieg in der Ukraine auf schmerzliche Weise vor Augen geführt.
An Karfreitag sehe ich Jesus diese Verletzlichkeit aushalten. Seine – und meine!
Und ich sehe, dass da einer mit ihm aushält, bis zuletzt, bis in den Tod hinein.
Wenn Jesus leidet, leidet auch der Vater –
wo ein Mensch leidet, leidet auch Gott – leidet Gott mit!
Ich weiß nicht, wie mein Tod einmal aussehen wird.
Aber wenn meine letzte Stunde gekommen ist, möchte ich versöhnt und mit mir im Reinen sein.
Ich will hoffen, dass dann jemand an meiner Seite ist, bei mir aushält;
und ich will darauf vertrauen, dass dann eine Stimme zu mir sagen wird:
„Amen, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein“.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsre Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen
Es gilt das gesprochene Wort.
Pfr. Dr. Florian Ihnsen
Stellv. Beauftragter der Evang.-Luth. Kirche in Bayern
für Hörfunk und Fernsehen beim Bayerischen Rundfunk
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