Predigt zum Nachlesen:
I. Die unsäglichen Qualen des Verliebtseins
Es gibt da diesen Film. Es ist mein Lieblings-Weihnachtsfilm. Die Geschichte beginnt fünf Wochen vor Weihnachten:
Sams Mutter ist gestorben, nach einer schweren Krankheit. Sie war noch jung und auch Sam ist erst elf Jahre alt. Sam und sein Stiefvater Daniel hatten Zeit, sich auf ihren Tod und das Begräbnis vorzubereiten; trotzdem ist Daniel davon tief erschüttert. Und noch dazu sorgt er sich um Sam: Der Junge verschließt sich ihm gegenüber und Daniel befürchtet, es könnte ihn neben dem Tod der Mutter noch etwas Anderes bedrücken: Wird er in der Schule gemobbt? Nimmt er vielleicht Drogen?
Also beschließt er, ein Gespräch zu führen – eine meiner liebsten Szenen im Film Tatsächlich Liebe. Der Elfjährige und der Witwer sitzen auf einer Bank am Ufer der Themse. Das Wasser glitzert in der Sonne, im Hintergrund sieht man die Millenium Bridge. Auf der Promenade gehen Menschen spazieren, während die Zwei gemeinsam auf den Fluss schauen. Hier entscheidet Sam, sich seinem Stiefvater zu offenbaren, auch wenn er immer noch Zweifel hat, ob der ihm wirklich helfen kann. Sein Problem, mit dem er schließlich herausrückt, ist: Er ist verliebt.
Und ihn plagen Schuldgefühle, weil von ihm erwartet wird, doch um seine Mutter zu trauern. Und ja, er ist auch traurig, aber vor allen Dingen ist er eben verliebt.
Daniel ist erleichtert angesichts dieser Offenbarung – und das sagt er Sam auch: er hatte ja viel Schlimmeres befürchtet. Sam hingegen ist irritiert: Was gibt es schlimmeres als „die unsäglichen Qualen des Verliebtseins“? Daniel stutzt einen Moment und stimmt ihm schließlich zu – denn er erinnert sich: Verliebtheit ist oft kompliziert.
Allein in diesem Auftakt der Geschichte durchleben die beiden Figuren schon die unterschiedlichsten Gefühle: Trauer bis zur Verzweiflung, Sorge bis zur Hilflosigkeit, Entschlossenheit, Verliebtheit, Erleichterung, Nachdenklichkeit.
Für Außenstehende mag klar sein: Die Beiden sind in Trauer; da ist doch gar kein Raum für andere Gefühle, aber wer der Geschichte folgt, erlangt einen tieferen Einblick in ihre Gefühlswelt und erkennt, dass die deutlich vielschichtiger ist, als man von außen meinen sollte.
II. Paulus strahlt im Gefängnis
Der Apostel Paulus sitzt im Gefängnis. Er wurde wegen seiner Missionstätigkeit festgenommen, darf aber Briefe schreiben. Und er schreibt – unter anderem an die christliche Gemeinde in Philippi – schreibt ihnen von Kampf und Opfern und Widersachern und Leiden.
Paulus sitzt im Gefängnis. Und schreibt. Über Freude. Darüber, wie sehr ihn die Verbreitung des Evangeliums in Philippi freut; darüber, wie voll sein Herz mit Liebe für all die Menschen dort ist, mit denen er sich im Glauben an Christus verbunden weiß.
Manchmal, so stelle ich mir das vor, bekommen seine Wärter oder seine Mitgefangenen das mit, wie Paulus in sich hineinlächelt. Wie er aus seinem Inneren zu strahlen scheint, während die Gefangenen um ihn herum laut ihr Schicksal beklagen.
Doch Paulus lässt sich nicht beirren. Er schreibt:
1Also, meine lieben Brüder und Schwestern, nach denen ich mich sehne […]: Haltet unerschütterlich daran fest, dass ihr zum Herrn gehört, ihr meine Lieben! […]
4Freut euch immerzu, weil ihr zum Herrn gehört. Ich sage es noch einmal: Freut euch! 5Alle Menschen sollen merken, wie gütig ihr seid. Der Herr ist nahe! 6Macht euch keine Sorgen. Im Gegenteil: Wendet euch in jeder Lage an Gott. Tragt ihm eure Anliegen vor in Gebeten und Fürbitten und voller Dankbarkeit. 7Und der Friede Gottes, der alles Verstehen übersteigt, soll eure Herzen und Gedanken behüten. Er soll sie bewahren in der Gemeinschaft mit Jesus Christus. (Phil 4,1.4-7 BasisBibel)
III. Paulus – Influencer für Philippi
Ob sie wohl Grund hatten, sich so zu freuen in Philippi? War das das Lebensgefühl dieser kleinen christlichen Gemeinde: keine Sorgen, große Dankbarkeit, „alles gut“?
Oder will Paulus sie aufmuntern: Freut euch! Freut euch immer! Egal, was ist, und zu jeder Zeit!
Klingt schon ein bisschen dick aufgetragen. Aus den sozialen Medien kenne ich sowas Ähnliches unter dem Begriff toxic positivity, also giftige Positivität, die Einstellung: Good vibes only – Ich will nur gute Schwingungen in meinem Leben; alles, was die stören könnte, soll bitte draußen bleiben!
Da sagt eine: Es ist alles nur eine Frage der Einstellung. Wenn du mit der richtigen Energie durch den Tag gehst, wirst du sehen, wieviel Gutes dir passiert – oder auf dem Handy ploppt eines dieser beliebten WhatsApp-Bildchen auf: „Lächle und die Welt lächelt mit dir“. Aber so funktioniert Leben nicht, möchte ich Paulus antworten, so funktioniert nicht Freude und nicht Glücklichsein.
Ich weiß nicht, worüber sich die Menschen damals in Philippi gesorgt haben, wann sie glücklich waren, wie ihr Alltag aussah, was sie belastet hat und wann sie vielleicht nur noch beten konnten. Heute fällt mir so einiges ein. All die un-freudigen Erfahrungen und Gefühle sind ja da:
die Unsicherheit darüber, wie der restliche Winter wird, mit Heizkostenhoch und Inflation, Oder das beklemmende Gefühl zu versagen, als Elternteil oder im Beruf oder als Freundin oder der Druck, das Bild aufrecht zu erhalten, das andere von dir haben, das du selbst von dir hast. Manches davon scheint uns deutlich realer als die Freude, die Paulus hier so vollmundig verordnet.
Da klingt es verlockend, alles Schwere einfach wegzuschieben, weil jemand daherkommt und behauptet, das mit der Freude sei alles bloß eine Frage der Einstellung. Sei dankbar, sieh das Glück, du gehörst zu Gott, freu dich!
Und im gleichen Moment regt sich Widerspruch bei mir: Ich merke, dass dieser Jemand von einem ganz schön privilegierten Standpunkt aus spricht, als sollten die Brotlosen doch einfach Kuchen essen.
Ist Paulus also ein Influencer, wie einer, der online Stimmung macht?
Ich meine: Ja, Paulus ist ein Influencer: einer der Einfluss hat, damals in Philippi, der den Glauben der Menschen dort mit seinen Briefen prägt. Und in der Frömmigkeit vieler Christ*innen spielt auch heute ja eine wichtige Rolle, was Paulus gedacht und geglaubt und geschrieben hat.
Trotzdem klingen seine Worte mir etwas zu vollmundig, als mache er es sich ganz schön einfach: Ihr müsst euch halt freuen, dann ist das Leben auch nicht so schwer. Oder – und das find ich die noch gemeinere Botschaft – ihr müsst halt nur richtig doll glauben, dann habt ihr keine Sorgen mehr.
Ich frage mich, ob auch damals in Philippi jemand gedacht hat: Der nimmt den Mund aber ganz schön voll.
Denn deren Leben als christliche Minderheit ist bestimmt kein Zuckerschlecken. Da gibt es Fragen, Widerspruch, Gegenwind. Das ist nicht durch ein paar fromme Worte schönzureden.
Paulus legt sich in seinem Brief an die Gemeinde also ganz schön in’s Zeug – und sein Brief scheint Anklang gefunden zu haben, sonst wäre er uns heute nicht überliefert.
Ohne den Zuspruch von Paulus hätte die junge christliche Gemeinde in Philippi vielleicht nicht lange durchgehalten. Wenn etwas Neues beginnt, wenn Menschen den Glauben entdecken, sich zusammenschließen, sich verbunden fühlen untereinander und mit Jesus, dann sind das ziemlich gute Vibes, manche werden geradezu euphorisch gewesen sein am Anfang. Aber christliche Gemeinschaft ist nicht immer harmonisch und nicht immer einmütig, auf das erste Hoch folgt schnell der Alltag.
Da kann ich mir vorstellen, dass es manchen in der Gemeinde geholfen hat, von Paulus in’s Gedächtnis gerufen zu bekommen, warum sie all das grade tun, woran sie doch eigentlich glauben, warum es sich lohnt, sich im Alltag einzufinden, statt aufzugeben, dem Gegenwind standzuhalten statt ihm nachzugeben.
Einer, der ihnen zuflüstert: Freut euch!
IV. Paulus – Influencer für mein Herz
Auch mein Herz braucht manchmal eine Erinnerung, wenn der Kalender voll ist mit Sitzungen und der Schreibtisch mit Papier, und ich lieber mehr Zeit hätte, um Menschen zu begegnen oder kreativ zu arbeiten; oder wenn viel mehr Erwartungen an mich herangetragen werden, als ich erfüllen kann; oder wenn in mir nach und nach immer mehr Angst erwacht – vor Aufrüstung oder vor einer neuen Welle rechtsextremer Demos oder davor, dass immer größere Teile der Erde für Menschen unbewohnbar werden -; dann brauch ich eine Erinnerung, ein Darum tust du das von außen. Das ist so eine Sache, die ich mir nicht selbst sagen kann, da brauch ich einen, der mir schreibt:
Freu[ dich] immerzu, weil [du] zu Jesus gehör[s]t. Ich sage es noch einmal: Freu[ dich]! …Der Herr ist nahe! Mach[ dir] keine Sorgen. Im Gegenteil: Wende[ dich] in jeder Lage an Gott. Trag[e Gott deine] Anliegen vor in Gebeten und Fürbitten und voller Dankbarkeit.
Dann tönen die Worte von Paulus nicht mehr vollmundig oder gar großspurig in meinen Ohren, sondern sanfter, ermutigend:
Erinnere dich daran, jetzt, immer, in leichten und in schweren Tagen: Du gehörst zu Jesus! Und das ist ein riesiger Grund zur Freude.
Da höre ich zwischen den Zeilen:
Zerbrich dir nicht den Kopf anderer Leute und lass nicht deren Sorgen dein ganzes Herz ausfüllen. Lass noch Raum für die Freude! Für das, was du glaubst. Für das, was dich trägt.
Wenn ich das höre, spüre ich in mich hinein. Und finde da so vieles:
Die Sorgen Anderer, die ich ernst nehme, aber die ich mir nicht zu eigen mache und meine eigene Angst, die ich nicht zur Seite schiebe, sondern die ein Teil von mir ist und Liebe für so viele Menschen und für die Welt und Vertrauen auf Gottes Wirken; darauf, dass Maria Recht hat, wenn sie uns ihren Sohn ankündigt: Er stürzt die Machthaber vom Thron und hebt die Unbedeutenden empor. Er füllt den Hungernden die Hände mit guten Gaben und schickt die Reichen mit leeren Händen fort.
Und ich finde Freude, wenn ich mit meinen Patenkindern Lego baue oder wenn ich sehe, was in unserer Kirchengemeinde alles gut läuft, wie begeistert viele bei der Sache und für die Sache sind: Bei den Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die unseren digitalen Adventskalender mit Leben füllen. Bei den Menschen, die Flyer, Plakate, Banner entwerfen, drucken, Anderen in die Hände drücken und manchmal sogar hoch über den Köpfen aufhängen, weil sie überzeugt sind von dem, was in unserer Gemeinde geschieht, und viele Andere dafür gewinnen wollen.
Vielleicht hat sich so auch Paulus gefühlt, beim Blick nach Philippi?
V. Raum für die Freude
In dem Film Tatsächlich Liebe erleben Sam und Daniel im Grunde einmal alle Gefühle: im weiteren Verlauf der Geschichte sind sie euphorisch, desillusioniert, neugierig; sie gehen Wagnisse ein, albern miteinander herum, haben Einfälle und Erfolgserlebnisse. Gemeinsam.
Wie gut, denke ich beim Filmgucken, dass Daniel den jungen Sam damals an der Themse gefragt hat, was ihn bedrückt! Und dass er seine Antwort ernst genommen hat, seine Verliebtheit. Er tut sie nicht als kindisch ab und wird Sam dadurch ein guter Freund. Und er erkennt, dass Sams Gefühlswelt ebenso komplex ist wie seine eigene.
Fünf Wochen vor Weihnachten lernen wir beide als Trauernde kennen – um die Mutter, um die Partnerin – und ihr Umfeld wird die Zwei sicherlich noch eine Weile lang so wahrnehmen.
Und die Trauer ist auch nicht einfach weggeblasen, doch neben dieser Trauer ist in ihren Herzen auch Raum für Verliebtsein und Begeisterung. Das erleben die Beiden.
Als hätte ihnen jemand zugeflüstert:
Hey, das Leben hat leichte und schwere Tage, ihr wisst es. Habt Vertrauen! Zerbrecht euch nicht den Kopf anderer Leute. Schert euch nicht drum, was sie meinen, wie ihr euch fühlen sollt. Freut euch!
Und der Friede Gottes, der alles Verstehen übersteigt, soll eure Herzen und Gedanken behüten. Er soll sie bewahren in der Gemeinschaft mit Jesus Christus.
Amen.
Es gilt das gesprochene Wort.