Gemeinde Stadtkirche Melsungen
Stürmische Zeiten
Live-Übertragung aus der Evangelischen Stadtkirche, Melsungen
25.09.2022 10:05
 
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Predigt zum Nachlesen

I

Liebe Gemeinde in Melsungen und wo auch immer Sie gerade zugeschaltet sind,

„Wenn Dir das Wasser bis zum Hals steht, lass den Kopf nicht hängen!“ Es gibt schon witzige Sprüche. Aber leider gibt es Situationen, in denen einem nicht groß nach Lachen zumute ist.
Wenn die See hochgeht, wie wir es eben im Song von Herbert Grönemeyer gehört haben, und Wellen einen von Tal zu Tal stürzen: Land unter!
Und von Petrus haben wir gehört: wie er Angst bekam als er sah, wie sehr er dem Wasser ausgeliefert war, wie er gesunken ist und unterzugehen drohte.

Haben Sie das schon einmal erlebt? Ich weiß noch, wie mich einmal im Meer Wellen und Strömung richtig gepackt haben. Ein paar Atemzüge lang habe ich Salzwasser statt Luft in Mund und Nase bekommen. Immer beim Auftauchen, klatsch, die nächste Ladung ins Gesicht und dann wieder der Kopf unter Wasser. Ich wurde panisch: „Du ertrinkst gerade!“ Ich stelle mir vor: So ähnlich hat Petrus mit weit aufgerissenen Augen gejapst. Zwischen eigener Kraftanstrengung und Ohnmachtsgefühl hat er irgendwo Halt gesucht. Ertrinkende klammern sich an alles, was sie zu fassen kriegen – wenn sie denn etwas zu fassen kriegen...

„Wenn Dir das Wasser bis zum Hals steht…“ - wenn einem das im übertragenen Sinn passiert, reicht manchmal die Woge einer weiteren schlechten Nachricht, ein dummer Kommentar von außen, eine zusätzliche niederschmetternde Erfahrung und die Luft bleibt weg. „Ich kann nicht mehr! Das war´s!“

Hätten Sie das gedacht? Jeder zweite Bundesbürger fühlt sich von Burnout bedroht. Das ist wie: so lange geschwommen, irgendwann mehr verzweifelt gepaddelt zu sein, bis einem völlig die Luft wegbleibt. Die Weltgesundheitsorganisation WHO geht davon aus, dass weltweit mehr als 300 Millionen Menschen mit einer Depression leben. Prognosen sagen: Depressionen sollen es noch dieses Jahrzehnt auf den Platz 2 der häufigsten Volkskrankheiten schaffen. „Depression“ heißt wörtlich „Niedergedrückt-Sein“ – wie unter Wasser. Atemnot für die Seele!  Wir haben vorhin eine sehr persönliche Schilderung gehört: „Kein Entkommen. Der Sog war stärker.“

„Elemente duellieren sich. Gischt schlägt ins Gesicht.“, textet Grönemeyer. Das Matthäusevangelium zeichnet das als Bild: Menschen im kleinen Boot auf dem großen See Genezareth – „und der Wind blies direkt von vorn.“

In stürmischen Zeiten wie unseren, in denen das Wasser schnell bis zum Hals stehen kann, ist Niedergedrückt-Sein und den Kopf-hängen-Lassen noch bedrohlicher. Ich denke da an die Energiepreise und teure Lebenshaltungskosten, an Krieg, Pandemie und Klimawandel.
Wer weder Ängste oder Seelenschwankungen kennt, kann echt dankbar sein! Oder wer sich in diesen Zeiten keine Sorgen machen muss, weil er genug Geld hat oder in Sicherheit lebt. Aber viele haben dieses Glück nicht. Sie kennen die leisen und lauten Hilferufe:

„Bring mich durch die Nacht! Rette mich durch den Sturm. Fass mich ganz fest an, dass ich mich halten kann! Bring mich zum Ende. Lass mich nicht mehr los!“               

 

II

„Mach die Feuer an, damit ich dich finden kann! Steig zu mir an Bord!“

Das ist meine Sehnsucht: Einen echten Lichtblick haben! Dass uns einer im Auf und Ab des Lebens auf dem Wasser entgegenkommt. Ruhig. Stärker als alles, was mich untergehen lassen könnte – oder Dich. Stärker als alles, was uns die Luft nimmt. Und sei es der Tod – dieser letzte Orkan, der alles zum Kippen bringt. Land unter. Final.

Mich begeistert die Beschreibung aus dem Matthäusevangelium: Wie ruhig Jesus mitten über den aufgepeitschten See kommt. Um die vierte Nachtwache: Das ist in etwa 3.00 Uhr morgens. Übrigens interessant: Der Schlafforscher Prof. Dr. Jürgen Zulley von der Universität Regensburg hat untersucht, dass das genau die Zeit ist, in der Menschen am häufigsten mit Schlafstörungen kämpfen. „Stunde des Wolfes“ wird diese Stunde der Nacht etwas gespenstisch genannt. „Dass wir in dieser Zeit besonders oft aufwachen, uns mit Sorgen und Ängsten herumschlagen und nicht zurück in den Schlaf finden, ist keine Einbildung“, sagt er. Bei vielen dreht sich dann ein Kopfkarussell und sie können es nicht mehr stoppen: düstere Gedanken im Bett, Grübeln über den nächsten Tag, den Job, die Familie und wie man bloß alles schaffen soll. „Die Wellen machten ihnen zu schaffen.“, schreibt Matthäus. Und sie meinen, Gespenster zu sehen und schreien laut auf.

Dabei kommt Jesus und sagt ruhig genau das, was mitten in ängstlich wacher Nacht so guttut: „Fürchtet Euch nicht! Ich bin es. Ihr braucht keine Angst zu haben!“

Ja: „Übernimm die Wacht. Bring mich durch die Nacht!“ Wie das gut täte: Statt sich mit Schlafmitteln zu betäuben oder sich bis ins Morgengrauen wie bei Seegang hin- und her zu wälzen, in Kopf und Herz geschrieben zu bekommen: „Keine Angst. Keine maßlose Sorge. Fürchte Dich nicht! Ich bin da!“
Petrus reicht das noch nicht. Er will auch übers Wasser gehen. Gar nicht mehr ausgeliefert sein. Er will stürmische Zeiten beherrschen. Drüberstehen. „Herr, wenn Du es bist, befiehl mir, über das Wasser zu Dir zu kommen!“„Komm!“, sagt Jesus.

Wir haben gehört, wie es weiterging. Petrus kam, sah und – sank. Wohl auch, weil er wegsieht von Jesus, der ihm starkes Vertrauen gegeben hat.
Plötzlich fixiert er sich wieder auf den Wind und wie stark der bläst. „Da bekam er Angst!“ Keine Trittsicherheit mehr, dafür ein Schrei: „Herr, rette mich!“
Und dann der für mich schönste Moment: „Sofort (!) streckte Jesus ihm die Hand entgegen und hielt ihn fest!“ - „Fass mich ganz fest an, dass ich mich halten kann. Bring mich zum Ende. Lass mich nicht mehr los!“ – Herbert Grönemeyer singt das, und ich höre es, wie eine Vertonung des biblischen Berichts.
Es fasst für mich als Christ zusammen, worauf ich baue: Dieser Jesus streckt mir seine Hand entgegen und lässt mich nicht mehr los.

Genau das bedeutet sein Name! Jesus heißt: „Gott rettet!“

 

III

Als Christ will ich mich heute Morgen mit denen in einem Boot sitzen sehen, von denen die Bibel berichtet.
Das heißt erstens sehen - wenn auch vielleicht manchmal nur schemenhaft sehen - und vertrauen: Auch, ja sogar gerade im Sturm kommt Gott auf mich zu! Er hat unter den Füßen, was mich durcheinanderwirbelt. Das gibt der Furcht ein Maß. Mit Grönemeyer: Sie wird nicht zur „rauen Endlosigkeit“.
Gegen das Empfinden: „Bist zu lange fort!“, das mich auch bei Gott manchmal beschleicht, setzt der entgegenkommende Jesus: „Hier. Ich bin´s. Fürchte Dich nicht!“
Und nicht selten begegnet er uns so in Menschen, durch die er uns hilft. So haben wir es vorhin in einem Statement gehört: „Mir sind Menschen zur Seite gestellt worden. Sie haben mir sehr geholfen!“

Zum Zweiten nehme ich mit, was sich an Petrus abzeichnet: Glaube vermag viel, gibt mir Standing, wo ich es nie für möglich gehalten hätte. „Komm!“, sagt Jesus, und ich höre ich aus den Worten: „Ich traue Dir was zu! Den Kopf hoch und nicht hängen lassen! Sieh nach vorne - auf mich!“ Das ist ja eine Erfahrung bei Seegang: Wer nur auf die nächste Welle sieht, wird leicht seekrank. In die Weite gucken, zum Horizont: Das hilft, damit einem wohl bleibt.
Weitersehen: meine Stärken sehen, meinen Reichtum – an Freunden, an Möglichkeiten, an Zutrauen, das ich haben kann. „Komm! Wag es. Weiter!“, ermutigt Jesus. Und sieht offenbar mehr in mir, als ich es oft sehe. Meinen Blick darauf ausrichten, das ist christliche Sicht: Zuversicht. Sie löst Lähmung und setzt in Bewegung.
Aber genauso schnell kann mein Blick wieder ganz von den Wellen und Sorgen gefangen sein, und ich gehe darin unter. Wie gut, dass es bei Gott nicht um mein „Held-Sein auf dem Wasser“ geht! „Ich war noch nicht soweit“, hieß es vorhin in einem Statement. Glaube hängt gar nicht davon ab, wie weit ich bin! Ist kein Kursus, in dem ich erstmal einen bestimmten Level erreichen muss: Gott streckt die Hand aus. Und mehr noch: Ich muss es nicht mal bis zum Zugreifen schaffen. Er hält mich fest. Sofort. Jetzt. Ob ich es spüre? Wer weiß: Ich wäre vielleicht längst untergegangen, wenn´s anders wäre!

Und ein Drittes nehme ich heute mit: In mir hallt gerade noch eine sehnsüchtige Grönemeyer-Zeile nach: „Steig zu mir an Bord!“  Wenn die nächtliche Seebegegnung damit endet, dass Jesus ins Boot einsteigt und sich der Wind legt, ist das wie eine Antwort. Mit Gott an Bord kann sich Vieles klären: Ich habe erlebt, wie sich Stürme wechselseitiger Entrüstung und Schuldzuweisung durch Vergebung legten: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern!“ Und plötzlich ging eine langjährige Freundschaft nicht unter, weil einer den ersten Schritt machen konnte. Oder wie Menschen, innere Ruhe gefunden haben: Eben waren sie noch wütend und fühlten sich noch ohnmächtig einer Krankheit ausgeliefert. Doch dann spürten sie in sich Vertrauen: „Gott ist bei mir an Bord!“. Als legte sich ein Wind. Sogar angesichts der Frage, wie es weitergeht, wenn mit eigener Kraft nichts zu wenden ist.
Gott lässt sich nicht lange bitten. Er schippert mit uns durchs Leben und „geleitet uns heim“. Das gilt jetzt, gerade in diesem Moment. Das ist so „in der Stunde des Wolfes“ und in anderen dunklen Momenten oder woher auch der Wind so stürmisch wehen mag. Und das bleibt so: Er „bringt mich zum Ende, lässt mich nicht mehr los!“

„Wenn Dir das Wasser bis zum Hals steht, lass den Kopf nicht hängen!“. Hm, witziger Spruch, mag sein.
„Wenn Dir das Wasser bis zum Hals steht: Gott lässt Dich nicht hängen!“ – das ist mehr als ein Spruch. Es ist das Vertrauen meines Lebens.
Und das bringt mich zum Lächeln. Mitunter sogar in stürmischen Zeiten.       

Amen

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Dlf Gottesdienst