"Wie eine Blüte im Winter"

Lutherkirche Wiesbaden / Windolf

"Wie eine Blüte im Winter"
Gottesdienst-Live-Übertragung aus der Lutherkirche, Wiesbaden
04.12.2022 - 10:05
01.08.2022
Pfarrerin Ursula Kuhn
Über die Sendung:

Evangelischer Rundfunkgottesdienst am 4. Dezember 2022 (Zweiter Advent) aus der Lutherkirche in Wiesbaden live im Deutschlandfunk, 10:05 bis 11 Uhr

Der Titel bezieht sich auf den Adventsbrauch der Barbarazweige. Am 4. Dezember werden winterlich kahle Kirschzweige ins Wasser gestellt, als Symbol für die adventliche Hoffnung auf neues Leben. Denn bis Weihnachten sollen diese Zweige Blüten tragen.
Der Bibeltext für den Zweiten Advent ist ein Liebeslied aus dem Alten Testament. Was Verliebtsein und Advent miteinander zu tun haben, darum wird es in diesem Gottesdienst gehen. Pfarrerin Ursula Kuhn gestaltet ihn mit einem Team und hält die Predigt. Eine Frau und ein Mann aus der Gemeinde erzählen von verlorener und wiedergefundener Liebe.
Unter der Leitung von Kantor Niklas Sikner singen der Bachchor Wiesbaden und die Jugendkantorei der Evangelischen Singakademie u. a. Werke von Johann Eccard und John Rutter. Der Organist ist Manuel Pschorn. Stefan Ziegler spielt Trompete.

Gottesdienst nachhören:
 
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Predigt zum Nachlesen:

Sie steht am Fenster. Schaut auf die Uhr.
Zwei Stunden noch. Zwei Stunden noch warten.
Auf ihn. Der so unverhofft in ihr Leben gefallen ist. Als sie es schon gar nicht mehr glaubte, dass da jemals wieder so etwas sein könnte wie Leidenschaft und Zuneigung und Herzklopfen und Schmetterlinge im Bauch.
Vorbereitet war sie darauf nicht. Zu groß waren die Enttäuschungen damals, als ihr Mann aus dem gemeinsamen Haus ausgezogen ist. Als sie sich eine kleinere Wohnung suchte. Und gehofft hat, ihre Ehe würde sich wieder einrenken. Sie würden wieder zueinander finden.  Bis sie ihn mit einer anderen gesehen hat. So vertraut, wie sie selbst einmal waren.
Vorbereitet war sie darauf nicht.
Sie schaut auf die Uhr. Erst wenige Minuten sind vergangen. Sie schaut nach draußen. Hört schon im inneren Ohr seine Stimme. Ist sie jetzt vorbereitet?
Sie hat aufgeräumt und die Wohnung geputzt. Der Kuchen duftet aus dem Ofen. Auf dem Tisch steht ein Adventskranz und es riecht nach Tannenzweigen, Zimt und Orange. Sie selbst hat sich schön gemacht – für ihn. Wünscht sich, dass er sie ansieht  mit Blicken, die verzehren. Ach, wenn er doch nur schon da wäre!

Den Geliebten erwarten. Und hoffen: Wenn er kommt, dann ist alles gut. Dann tritt in den Hintergrund, was sonst die Tage mühsam und trüb macht. Das Leben fühlt sich leicht an, wenn man verliebt ist. Das Herz hüpft vor Glück.
So klingt das in der Lesung aus der Bibel für den Zweiten Advent heute. Die Worte aus dem Alten Testament heißen Hohes Lied. Es ist das Hohelied zweier Menschen, die sich lieben. Eine Frau wartet auf ihren Geliebten und sagt: „Da ist die Stimme meines Freundes! Siehe, er kommt und hüpft über die Berge.“ Und er spricht zu ihr: „Steh auf, meine Freundin, und komm, meine Schöne, komm her!“

Verliebtsein und Advent. Die beiden haben das Warten gemeinsam. Wer verliebt ist, kann es kaum erwarten, die Freundin, den Freund, den geliebten Menschen in die Arme zu schließen. Und Advent ist Warten auf Weihnachten, auf das Fest der Liebe Gottes.
Verliebtsein und Advent haben die Sehnsucht gemeinsam. Im Advent sehne ich mich danach, dass das Schwere und Dunkle in den Hintergrund rückt. Ich sehne mich nach dem, was das Leben hell macht. Nach Zeichen, dass Menschen liebevoll miteinander umgehen. Ich will mich auf Gutes freuen können. Advent! Das Herz soll vor Freude hüpfen.

Advent. Warten voller Vorfreude. Kann das funktionieren? Können die Kerzen, die wir am Adventskranz anzünden, die Lieder, die wir singen, die Türen, die wir an unseren Adventskalendern öffnen, die Geschenke, die wir vorbereiten, wirklich schaffen, dass das Leben heil wird, heil und hell und voller Liebe?      
Wo doch die Welt völlig aus den Fugen geraten scheint, bedroht durch Krankheit, Krieg und Armut? 
Das bedrückt und macht mich manchmal ganz kleinmütig. Darum sprechen mich zwei Wörter aus der biblischen Lesung besonders an. „Steh auf!“, sagt der Mann zu seiner Geliebten. „Steh auf!“ Gegen allen Augenschein, all dem zum Trotz, was unfriedlich und zerstörerisch ist: Ich setze auf die Hoffnung! Ich setze auf die Worte: Steh auf! Die Welt kann so sein, wie Verliebte sie sehen: wunderschön und voller Freude.  
Im Hohenlied sprechen die Frau und der Mann einander so an: „Du mein Freund“ - „Du meine Freundin, meine Schöne“. Die Worte von Verliebten am Zweiten Advent. Das drückt aus: So ist Gott. So darf ich im Advent Gott erwarten. Wie einen Freund, wie eine Freundin. Kein Berg ist zu steil, kein Hügel zu hoch. Gott hüpft und springt darüber, sieht durchs Fenster und spricht: Steh auf!

Advent. Gott will zu uns, seinen Menschen kommen. Immer wieder neu. Und ich, ich warte auf Gott, gespannt, wie neu verliebt.
Die Verliebten in der Bibel heißen Salomo und Sulamit. Im Hebräischen bestehen beide Namen einfach nur aus den Buchstaben S, L und M. Das sind die gleichen Buchstaben wie bei Schalom – Friede. Sulamit hält Ausschau nach Salomo. Friede sehnt sich nach Frieden. Friede wartet auf Frieden.
Mitten hinein in eine unfriedliche Welt werden die beiden Verliebten zu Friedensboten. Der Friede ist noch nicht da. Aber ich hoffe auf Frieden – so wie man mitten im Winter vom Frühling träumt. Das tut das biblische Hohelied. Da sagt er zu ihr:

„Denn siehe, der Winter ist vergangen,   
der Regen ist vorbei und dahin.    
Die Blumen sind hervorgekommen im Lande,      
der Lenz ist herbeigekommen,      
und die Turteltaube lässt sich hören in unserm Lande.            
Der Feigenbaum lässt Früchte reifen,      
und die Weinstöcke blühen und duften.“

Blumen, Lenz, Turteltaube. So ist das, wenn man verliebt ist. Da entdeckt man Liebevolles und Schönes, wo man es vorher gar nicht gesehen hat. Es gibt genug Hass, genug Grausamkeit. Was die Welt braucht, ist Liebe.
In der biblischen Lesung heute sagt ein Mann zu der Frau, die er liebt: „Siehe, der Winter ist vergangen. Die Blumen sind hervorgekommen.“

Noch sind wir mitten im Winter.    
Noch blüht nichts auf.       
Aber das Leben wird aufblühen. Auch wenn es noch gar nicht danach aussieht.

Das drückt ein alter Brauch im Advent aus: Heute am 4. Dezember holen sich einige die Zweige von einem Kirschbaum ins Haus. Sie stellen sie ins Wasser. Dann heißt es warten und Geduld haben, bis die Knospen an den Zweigen sich öffnen. In knapp drei Wochen werden sie aufblühen – an Weihnachten. Die Zweige, die jetzt kahl und abgestorben aussehen, werden neues Leben tragen.
Für mich ist das ein starkes Hoffnungszeichen besonders in diesem Advent, in dem so viele Krisen zu schaffen machen. Hoffnung ist wie eine Blüte im Winter.

Heil werden und Frieden, das ist es, was ich besonders jetzt im Advent und mit Blick auf Weihnachten ersehne. Und ja, das funktioniert, obwohl unsere Welt so kaputt und unfriedlich ist.

Es funktioniert wegen der Liebe.   
Wegen der Liebe, die so voller Leidenschaft und Lust auf das gemeinsame Leben daherkommt.      
Wegen der Liebe, die voller Sehnsucht ist.         
Wegen der Liebe, die neugierig ist auf ihr Gegenüber.    
Wegen der Liebe, mit der Gott mir entgegenkommt, mir zuruft: „Steh auf und komm – ich komme dir entgegen!“

Gott kommt zu uns! 
„Wie ein Geliebter, hüpfend über Berge und Hügel,       
so dass er sich in den Augen der Welt ziemlich lächerlich macht          
und als Kind in der Krippe am Rand der Stadt liegt
und gut dreißig Jahre später spöttisch erhöht wird        
ans Kreuz draußen vor der Stadt – und dass sich dadurch die Welt verändert.“1         

Noch ist Winter. Noch sind die Zweige kahl. Aber ich vertraue darauf: Hoffnung ist wie eine Blüte im Winter. Gott kommt. Gott lässt das Leben neu aufblühen und bringt Frieden.

Bis dahin können wir nur warten. Und uns vorbereiten.  
Wenn wir einander begegnen, liebevoll, behutsam, zärtlich.     
Wenn wir einander anschauen und da eine Frau sehen, einen Mann, ein Kind – einen Menschen, von Gott gewollt. Von Gott geliebt – wie ich!
Wenn wir einander zuhören und miteinander teilen – die Nöte, die Sorgen genauso wie die Freude und die Hoffnung.    
Wir können nur warten, gemeinsam, leidenschaftlich. Uns vorbereiten auf den, der da kommt. Wie Verliebte aufeinander warten.

Warten ist nicht passiv. Beim Warten bin ich gespannt. Ich richte mich aus auf das, was ich erwarte. Ich setze Zeichen für Hoffnung und für Liebe im Umgang miteinander. Ich warte im Advent und lausche auf die Stimme, die mir zuruft: „Steh auf und komm, komm her!“

Die Frau vom Anfang meiner Predigt steht noch immer am Fenster. Auf einmal ist die Zeit ganz schnell vorbeigeflogen –  mit den Gedanken, die ihr durch Kopf und Herz gingen. Die bangen Fragen – und die Hoffnung. Der Zweifel – und die Sehnsucht.

Da kommt sein Auto um die Ecke gefahren. Parkt vor dem Haus. Er steigt aus. Er hat Zweige von einem Kirschbaum in der Hand. Er sieht sie am Fenster stehen.
So schön. So strahlend. Mit ihren Falten um Augen und Mund. Mit ihren grauen Strähnen im Haar.
Er winkt ihr zu. Jetzt löst sie sich vom Fenster. Als wäre das Winken ein Rufen gewesen: „Steh auf! Komm!“

Amen.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

01.08.2022
Pfarrerin Ursula Kuhn