Alle Vögel sind schon da

Morgenandacht
Alle Vögel sind schon da
03.03.2020 - 06:35
30.01.2020
Stephanie Brall
Sendung zum Nachhören
Sendung zum Nachlesen

„Mach schnell, mein Liebes!

Komm heraus,

geh mit!

Der Winter ist vorbei mit seinem Regen.

Es grünt und blüht, soweit das Auge reicht.

Im ganzen Land hört man die Vögel singen,

nun ist die Zeit der Lieder wieder da.“ (1)

 

Wirbt da – im Hohelied der Bibel – ein Mensch um einen Menschen?

Oder der Himmel um die Erde?

Oder der Frühling um den Winter?

 

So oder so:

Ich höre die Vögel zwitschern

und lasse mich locken,

der Tag ist noch jung,

ich gehe hinaus,

hinein in den Wald,

spitze meine Ohren

und höre den Vögeln hinterher.

 

Später finde ich so einiges heraus über sie:

Zum Beispiel, dass am liebsten die Männchen singen.

Nämlich um den Weibchen ihre Liebe zu erklären.

 

Und dass der Gartenrotschwanz als einer der ersten anfängt zu singen,

noch bevor die Sonne überhaupt aufgegangen ist.

Erst nach und nach stimmen die anderen Vögel ein.

Und jeder hat seinen eigenen Part in dem großen Konzert.

Und seine Eigenart.

 

Der Eichelhäher zum Beispiel

ist ein Meister der Imitation.

Mal klingt er nach Habicht, mal nach Specht.

Auch der Star ist ein intelligenter Imitator.

Nicht nur den Gesang anderer Vögel kann er nachmachen:

Mitunter miaut der Spaßvogel wie eine

Katze oder knattert wie ein Motorrad.

Sein Gefieder erinnert an den Sternenhimmel,

deswegen auch sein Name „Star“.

 

Das Gefieder der Amsel ist eher schlicht schwarz.

Ihr Gesang dafür umso außergewöhnlicher.

Wechselseitig antworten die Männchen

auf den Gesang anderer Amselmännchen

und greifen dabei deren Motive auf.

 

Die Mönchsgrasmücke

ist bekannt für ihren wohltuenden, edlen Gesang

und zwitschert je nach Verbreitungsgebiet

in einem anderen Dialekt.

 

Die Blaumeise liebt es,

kopfüber von Zweigen zu hängen,

und nistet gerne mal in dem ein oder anderen Briefkasten.

Sie begeistert mit abwechslungsreichem, hellem Gesang,

der meist mit einem Triller endet.

 

Ihre große Schwester ist die Kohlmeise;

ein gern gesehener Gast in unseren Gärten,

weil sie Pflanzenschädlinge von Bäumen wegpickt.

Und vor allem kündet sie energisch den Frühling an.

 

 

Auch Rosa Luxemburg liebte Kohlmeisen.

 

Die Vertreterin

der europäischen Arbeiterbewegung

konnte die Kohlmeisen

sogar in Gefangenschaft hören

- vermutlich mit den Ohren ihres Herzens -,

und schrieb dort folgende Zeilen über sie:

 

„ZWI – ZWI“ …

Das ist die erste leise Regung des kommenden Frühlings,

-

Trotz Schnee und Frost und Einsamkeit glauben wir

- die Kohlmeisen und ich –

an den kommenden Frühling!

Und wenn ich den vor Ungeduld nicht erleben sollte,

dann vergessen Sie nicht,

dass auf meiner Grabestafel n i c h t s stehen darf außer

„Zwi – zwi“ … (2)

 

 

Das Zwitschern der Singvögel lässt mich hoffen.

Darauf, dass der Frühling wiederkommt.

Dass er grün und bunt und vielfältig wird.

Dass die Liebe nochmal eine Chance bekommt,

und noch eine, und noch eine, und noch eine.

Dass ein Neuanfang möglich ist, wieder und wieder.

 

All das pfeifen die Spatzen von den Dächern

und die Singvögel von den Bäumen,

- so stelle ich es mir vor -

und ich lasse mich anstecken,

fange an zu summen,

wie wär’s mit „Alle Vögel sind schon da“?

Vielleicht finde ich ja einen,

der sich noch an die nächsten Strophen erinnert,

oder sich eine zweite Stimme dazu ausdenkt.

 

Yehudi Menuhin, der bekannte Dirigent

und Geigenvirtuose meinte einst,

dass uns das Singen den Rhythmus des Lebens lehrt.

Und, dass das Singen sich in dem Maße entfaltet,

„wie es aus dem Lauschen,

dem achtsamen Hören erwächst.

Singend können wir uns darin verfeinern,

unsere Mitmenschen und unsere Mitwelt zu erhören“,

sagte Menuhin. (3)

 

Und eigentlich so naheliegend, denke ich,

ist die Stimme ja das erste Instrument

eines jeden Menschen.

Und der Ursprung eines jeden Tons der Atem.

 

Und wenn es so sein sollte,

dass der Mensch durch den Atem Gottes geschaffen wurde,

wie es im ersten Buch der Bibel heißt,

dann ist Singen vielleicht auch Beten,

und alles fängt mit dem Atem an,

und Gott ist viel näher als ich dachte.

 

„Mach schnell, mein Liebes!

Komm heraus, geh mit! …

Im ganzen Land hört man die Vögel singen,

nun ist die Zeit der Lieder wieder da“, (1)

wirbt da ein Mensch um einen anderen,

der Frühling um den Winter,

und … der Himmel um die Erde!

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

 

© Text: In Anlehnung an Stephanie Brall et al, Leben lieben: Kreative Inspiration für Feiertage, Allerweltstage und Lieblingstage. bene! Verlag. 2019. ISBN 978-3-96340-049-0

 

  1. Hohelied 2,10-12: Gute Nachricht-Bibel, durchgesehene Neuausgabe, © Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.
  2. Rosa Luxemburg: Quelle unbekannt. Gefunden in: Wirken aus Stille, Loccumer Brevier II, LVH, S.298.
  3. Sir Yehudi Menuhin, Zur Bedeutung des Singens; verfasst als Schirmherr von Il Canto del mondo – Internationales Netzwerk zur Förderung der Alltagskulutren des Singens e. V., Düsseldorf, 1999, © Il canto del mondo e.V., mit freundlicher Genehmigung des Vereins.
30.01.2020
Stephanie Brall