Teetasse mit Sprung

Wort zum Tage
Teetasse mit Sprung
von Domprediger Michael Kösling, Berlin
29.08.2016 - 06:23
29.08.2016
Domprediger Michael Kösling

Meine Teetasse hat einen Sprung. Hauchdünn zieht er sich durch das weiße Porzellan. Ich weiß gar nicht, wie er da hineingekommen ist. Auf einmal war er da. Zuerst wie eine Ahnung, ein leichter Schatten, den ich abzuwaschen versuchte. Mit jeder Tasse Tee jedoch wurde der Riss deutlicher. Wie ein feiner Faden. Und er ist nicht mehr zu übersehen. Ich habe insgesamt vier Teetassen. Besser gesagt: hatte. Denn neulich ist es mir doch passiert. Meine feuchte Hand am feuchten Porzellan. Ein bisschen zu viel Schwung mit dem Geschirrtuch. Und da lagen sie vor mir, die Scherben und Splitter meiner Tasse. Ich will nicht verschweigen, dass mir zuerst ein Fluch über die Lippen kam. Dann schoss mir der Gedanke in den Kopf: Hoffentlich war es die, die eh schon einen Sprung hatte. Seltsam, dieser erste Gedanke. Er fühlte sich schon beim Auffegen der Scherben falsch an. Sie war es nicht. Nun sollten möglichst weder angeschlagene, noch lupenreine Teetassen zu Boden fallen. Mein erster Gedanke hat mich beunruhigt. Welchen Wert messe ich den Dingen zu? Und vor Allem: Denen, die angeschlagen sind, die nicht mehr makellos sind. Wie ist es mit den Dingen, die nicht mehr so sind, wie sie sein sollten? Funktionstüchtig irgendwie noch, aber eben nicht mehr so ganz. Nicht mehr ganz so schön. Nicht mehr ganz so neu. Und kann es sein, dass der Umgang mit diesen Dingen nicht unerheblich ist für die Art und Weise, wie Menschen miteinander umgehen? Kann es sein, dass wir die Beschleunigung der Austauschraten der Dinge unmerklich auch auf uns Menschen übertragen? Denn es ist ja so, dass Dinge kaum noch mit uns alt werden. Dass wir sie uns kaum noch anverwandeln können. Dass wir kaum noch eine Beziehung zu ihnen aufbauen können. Dass die Dinge uns keine Geschichten mehr erzählen. Schläft ein Lied in allen Dingen / die da träumen fort und fort / Und die Welt hebt an zu singen / Triffst Du nur das Zauberwort. Ökonomisch gesehen hat der Gesang der Dinge keinen Mehrwert. Eine lange Geschichte ist schlecht für den Umsatz. Aber gut für unsere Seele. Meine Teetasse hat einen Sprung. meine Teetasse erzählt eine Geschichte. Es ist die Geschichte einer Verletzung, eines Makels. Es ist eine Geschichte darüber, sich zu behaupten, darüber, berührt und gebraucht zu werden. Es ist eine Geschichte der Bewahrung. Wenn ich aus dieser Tasse trinke, ist es auch meine Geschichte.

29.08.2016
Domprediger Michael Kösling