Im Mai 86 war ich 9 Jahre alt. Und musste lernen, dass meine kleine Welt nicht alles ist. Plötzlich hieß es nämlich, wir Kinder dürften nicht mehr im Sand spielen. Das sei gefährlich, weil weit entfernt ein schlimmes Unglück geschehen sei. Diese Gefahr sei unsichtbar. Man könne die Strahlen nicht riechen oder schmecken. Ich konnte das nicht begreifen. Aber die Gesichter der Erwachsenen sagten mir: Das ist jetzt ernst. In diesen Maitagen 1986 ist mit dem Reaktorunglück in Tschernobyl ein Teil meiner Kindheit zu Ende gegangen.
Wenn ich heute in diesen ersten schönen Frühlingstagen mit meiner kleinen Tochter auf dem Spielplatz bin und sie im Sand spielt, erinnere ich mich oft an dieses Kindheitsgefühl: Das bis dahin Vertraute war auf einmal zu einer nicht greifbaren Gefahr geworden.
Die Erinnerung an den Mai vor 26 Jahren schwingt auch dann wieder mit, wenn ich die Bilder des schrecklichen Unglücks in Japan vor einem Jahr sehe, die Explosionen im Atomkraftwerk Fukushima und die verzweifelten Gesichter der vielen Menschen, die nie mehr in ihre Häuser zurückkehren können, weil sie auf Dauer radioaktiv verseucht sind. Das eigentlich Undenkbare hat unseren menschlichen Machbarkeitswahn aufs Neue in seine Schranken gewiesen.
Morgen jährt sich die Katastrophe zum ersten Mal. Ich gebe zu: Ich muss mich etwas anstrengen, das nicht zu verdrängen. Weil Diskussionen um Ehrensold oder Eurorettung kurzweiliger sind als das Erinnern an ein Unglück, dessen Folgen unangenehm unabsehbar sind.
Aber: Wir brauchen das Erinnern. Indem wir uns erinnern, zeigen wir uns mit denen solidarisch, die vor uns gelebt, gekämpft und gehofft haben. Wir lassen ihr Leben und ihr Leiden nicht ins Leere laufen. Wir nehmen sie und das, was sie uns lehren mit in unsere Zukunft.
Das Leben aus und mit der Erinnerung spielt in vielen Religionen eine wichtige Rolle. Für uns Christen gerade jetzt, in der Passionszeit. Wir erinnern uns an den Leidensweg eines Menschen, der für seine Botschaft ans Kreuz geschlagen wurde. Und wir werden an Ostern seine Auferstehung erinnern – dass das Leben stärker ist als die Macht des Todes. Durch dieses wiederkehrende Erinnern an uralte Geschichten stellen wir unser Leben in eine ganz neue Perspektive, nämlich in das Vertrauen darauf, dass Gott auch für uns im 21. Jahrhundert eine lebenswerte Zukunft will. Egal, wie sehr die Fakten manchmal dagegen zu sprechen scheinen.
In meiner Region werden wir morgen mit einer langen Lichterkette daran erinnern, dass die Menschheit mit der Atomkraft einen falschen Weg eingeschlagen hat. Denn gegen die unsichtbare Gefahr der radioaktiven Strahlen gibt es keine Gegenwehr. Und sie lauert auch bei uns. Zum Beispiel im Atommülllager Asse, in das ständig Wasser eintritt und die dort lagernden Fässer mit radioaktivem Müll gefährdet.
Ich selbst werde morgen auf unserem Spielplatz eine Kerze anzünden. Für die japanischen Mütter, die seit einem Jahr mit Geigerzählern die Strahlenbelastung messen bevor sie ihre Kinder in den Sandkasten setzen. Und auch für die japanischen Kinder, die nicht so sorglos im Sand spielen können wie meine Tochter. Die wahrscheinlich wie ich selbst 1986 einen Teil ihrer Kindheit verloren haben, weil da auf einmal eine unsichtbare Gefahr lauert, die es in ihrer Kinderwelt vorher nicht gegeben hat. Ich möchte mich erinnern, um dem Leben das Wort zu geben.
(NDR)
Senderbeauftragter Jan Dieckmann
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