Pastorin Kirstin Faupel-Drevs
Lass los! Gib frei! Von Fasten, Barmherzigkeit und der Sehnsucht nach Gottes Nähe
Rundfunkgottesdienst aus der Jubilate-Kirche in Hamburg
14.02.2021 09:05
Predigt zum Nachlesen

Liebe Gemeinde,

 

Estomihi - Sei mir ein starker Fels - dieser Sonntag ist wie der Tritt auf einen Felsvorsprung, eine Art Aussichtsposten auf das, was kommen soll. Fastenzeit ist angesagt, am Aschermittwoch geht es los. Aber von all den tollen Tagen vorher keine Spur. Kein Vergnügen, natürlich kein Karneval, kein Skiurlaub, kein Valentinstag ... die Zeit verrinnt konturlos. Worauf bitte sollen wir denn noch verzichten? 7 Wochen ohne Perspektive außer Impfen?

 

Auch die biblischen Lesungen von heute sind ernst. Und doch klingt in ihnen ein anderer Ton an. Die dort zu Wort kommen, halten Ausschau nach Gott und fragen: wo bist du denn? Seht, wir gehen hinauf nach Jerusalem. Jesus nimmt die Seinen mit auf den Weg. Seine Ansagen klingen beängstigend: Der Menschensohn muss viel leiden und verworfen werden, er wird getötet werden und nach drei Tagen auferstehen, so wird es kommen, sagt Jesus. Und als sein Freund Petrus ihm ins Wort fallen will, weist er ihn in die Schranken und ruft auf zur Nachfolge: Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach.

 

Was heißt es in dieser Zeit, sein Kreuz auf sich zu nehmen und Nachfolge zu versuchen? Vielleicht ganz schlicht – einfach annehmen, was ist. Die Corona-Gegenwart mit ihren vielen Auflagen, das Alleinesein und Innerlich-die-Wände-hochgehen, das Sich-Verkneifen von Reisewünschen und das Gefühl von Hilflosigkeit, das immer wieder hochkommt. Es so nehmen, immer wieder in Ruhe durchatmen – weitergehen, Schritt für Schritt und versuchen, meinen Radius im Innern zu erweitern. Aber wie?

 

Was hilft es dem Menschen, die ganze Welt zu gewinnen und Schaden zu nehmen an seiner Seele? Es reizt mich, diesen einen Satz Jesu einmal umzudrehen: Was wäre, wenn der Mensch die ganze Welt verloren hätte, aber seine Seele könnte heil werden?

 

Der Prophet Jesaja versucht, die Menschen aufzurütteln.

Der Predigttext aus dem ersten Testament erzählt von Menschen, die gerade das Gefühl haben, alles verloren zu haben. Der Gottesmann versucht, sie aus ihrer Lethargie zu reißen. Er soll seine Stimme wie eine Posaune erheben, denn offensichtlich sind die Hörkanäle der Leute verstopft. Es ist die Zeit in Jerusalem gut 500 Jahre vor der Geburt Christi. Die Stimmung ist trüb, die Menschen sind niedergeschlagen, sie kommen nicht voran mit dem Aufbau der Stadt, es herrscht eine allgemeine Atmosphäre der Mutlosigkeit. Viele von ihnen gehören zur ehemaligen Oberschicht, gesetzestreue Juden, die erst kürzlich aus dem Exil zurückgekommen sind. So viele Jahre hatten sie auf diesen Moment der Heimkehr hingelebt, Jerusalem du Schöne, haben sie im Exil gesungen, wie lieblich sind deine Wohnungen, meine Seele verlangt und sehnt sich nach den Vorhöfen des Herrn, mein Leib und Seele freuen sich in dem lebendigen Gott (Ps. 84,3f). Und nun ist die Wirklichkeit so ganz anders als erwartet. Sie sind kein homogenes Volk mehr, die Rückkehrenden treffen auf im Land verbliebene Menschen aus Judäa, Fremde, die beim Aufbau halfen, mit anderen Sprachen und Kulturen. Aber auf sie, die Heimgekehrten, die Frommen, kommt es doch jetzt an, oder? Sie wollen alles richtig machen: sie flüchten sich in ihre religiösen Rituale, sie verkneifen sich alles Schöne, sie rackern sich ab, sie fasten und denken: wenn wir uns nur genug Mühe geben, wird es alles wieder gut. Aber der Prophet lässt sich davon nicht beeindrucken. Er sagt: Ihr belügt euch selbst. Ja, ihr fastet, aber gleichzeitig nutzt ihr andere aus. Außerdem meckert ihr nur rum. Ihr seid aggressiv und wehleidig und merkt es noch nicht einmal. Denkt ihr, dass Gott so ein Fasten gefällt? So findet ihr ihn nicht. Brich dem Hungrigen dein Brot, führe den Elenden in dein Haus, wenn du einen nackt siehst, dann kleide ihn. Darum geht es. Tut das, was die Not wirklich wendet, schaut mal weg von euch selbst und woanders hin.

 

Wenn ich den Text laut lese, immer wieder und ihn dann einen Moment weglege, so gibt es Worte, die sich festsetzen und die im Herzensohr weiterrufen: Lass los! Gib frei! Brich dem Hungrigen dein Brot!  Ich spüre, wie hungrig ich selber bin, wie bedrückt und gefangen ich mich fühle, wie sehnsüchtig nach Gott und nach dem, was Sinn macht. Ja, dass meine Seele wieder heil wird, das wünsche ich mir so sehr:  Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten... dann wirst du rufen und Gott wird sagen: Siehe, hier bin ich.

 

Ich muss an meine alte Freundin Verena in Berlin denken. Sie lebt schon lange allein in ihrer Wohnung. Sie hat ein schwaches Herz und laufen kann sie auch nicht mehr. Aber sie ist eine Meisterin der Dankbarkeit. Sie erzählt mir am Telefon von kleinen Wundern und „Geschenken“, die sie jeden Tag vom lieben Gott bekommt. Mal ist es etwas, was ihr vor die Tür gestellt wird, mal ist es ein Gedicht. „Und wenn mir mal schwer ums Herz wird“, erzählt sie weiter, „dann lass ich mich von Jesus an die Hand nehmen und gehe mit ihm an den See Genezareth. Dann wird mir wieder leicht um die Seele.“

 

Jerusalem ist überall. Auch wir hocken in unseren Wohnungen und Kammern und rackern uns ab. Wir versuchen uns abzulenken, wir versuchen, das Beste aus der Situation zu machen. Aber eigentlich halten wir es schon lange nicht mehr aus. Wir fordern: die Kinder sollen wieder in die Schulen gehen können, aber eigentlich möchten doch auch wir selbst zurück in den gewohnten Alltag. Wir ärgern uns über die Unstimmigkeiten in politischen Entscheidungen, die Lage auf vielen Intensivstationen ist bedrückend, und wir ahnen, dass wir selbst – als Gesellschaft wie als einzelne, Anteil haben an dem, was quergeht. Das Rad steht still, die meisten halten sich an die Regeln und trotzdem wird es nur langsam besser mit den Corona-Zahlen. Und wir wissen um die anderen, die außerhalb des Blickfeldes geraten sind. Zum Beispiel die Geflüchteten in Bosnien, die bei winterlichen Temperaturen in Zelten hocken, oder Kinder auf den griechischen Inseln, die in Elendslagern verkümmern und an Europas Hartherzigkeit zerschellen. Wir wissen, dass die Pflegekräfte in Altenheimen und Krankenhäusern absolut unterbezahlt sind. Wir wissen, dass viel Ungerechtigkeit herrscht. Und trotzdem beharren wir auf dem, von dem wir meinen, dass es uns zusteht: Ein Recht auf die alte „Normalität“ mit ihren Annehmlichkeiten, die gerade nicht zu haben ist.

 

Lass los! Gib frei! Vielleicht brauche ich gerade jetzt so eine Prophetenstimme in mir. Eine, die mich schüttelt, die mir die verstopften Kanäle freipustet, die mir hilft, den Blick auf das zu richten, was jetzt zählt, ob ich es jetzt Fasten nenne oder nicht. Aber gerne mal 7 Wochen anders als bis jetzt.

 

Zum Beispiel so: Lass mal los! Deinen Frust, dein dich-selbst-Bedauern.

Lass Deine Wut los und spür hin zur Hilflosigkeit, die sich darunter verbirgt.

Lass mal diese permanente Ablenkung, das Klicken nach Bildern, Filmchen und Sensationen.

Ja, es ist schwer, nicht rauszukommen und sich selbst aushalten zu müssen.

 

Es ist schwer, die Füße still zu halten, aber es ist auch die Chance, endlich einmal klarer zu sehen. Was siehst du, wenn nichts mehr ist? Was hörst du hinter dem Lärm deiner Seele?

Was wäre, wenn der Mensch die ganze Welt verloren hätte, aber seine Seele könnte heil werden? Die Stimme des Propheten Jesaja und die Stimme Jesu werden zu einer einzigen. Seht, wir gehen hinauf nach Jerusalem. Dorthin möchte ich auch.

 

Ich denke an den Heiligen Nikolaus von der Flüe, im Volksmund nannten sie ihn „Bruder Klaus“. Ein schweizer Bergbauer und erfolgreicher Politiker aus dem 15. Jahrhundert, verheiratet und Vater von 10 Kindern. In den letzten Jahren seines Lebens zieht er sich in eine einfache Klause in der Nähe seines Heimatdorfes zurück. Eigentlich wollte er nach Jerusalem pilgern, aber dann kommt es eben anders. Seine tiefe Sehnsucht nach Gott treibt ihn. Er will endlich aussteigen aus dem Rad der vielen Geschäftigkeiten, die ihn abhalten vom Beten. Sein Fasten ist radikal: Kein Kontakt mehr zur Familie, nur das Nötigste an Nahrung, sein einziger Wunsch: die Leiden Jesu zu betrachten, um die Werke der Barmherzigkeit besser zu verstehen. Er will ganz da sein und Gott Raum geben. Seine kleine, selbst gewählte Klause steht für sein Herz. Es sind nur wenige Texte von ihm überliefert, zu ihnen gehört dieses Gebet, das seine Haltung gut beschreibt:

 

Mein Herr und mein Gott,

nimm alles von mir, was mich hindert zu dir.

Mein Herr und mein Gott,

gib alles mir, was mich fördert zu dir.

Mein Herr und mein Gott,

nimm mich mir und gib mich ganz zu eigen dir…

 

Ganz für Gott da sein – das könnte bedeuten: sich Gottes Licht zuwenden und darauf zu vertrauen, dass Gott die Dinge in Segen verwandelt. Ich kann nicht so radikal fasten wie Bruder Klaus, will ich auch nicht, aber dieses Gebet spreche ich gerne jeden Morgen und verbinde es mit einfachen Gebärden. Es tut mir gut, loszulassen, was mich bedrängt, und mich für eine andere Kraft zu öffnen, die mir geschenkt wird.

 

Mein Gebärdengebet geht so.

Ich stehe aufrecht und entspannt zugleich. Meine Hände liegen auf dem Brustraum und kehren immer wieder dorthin zurück, wenn die Zeile kommt: „Mein Herr und mein Gott“. Und von dort, vom Herzen aus, geht die Gebärde der Hände dann in dreimal unterschiedliche Richtung. Aber vorher spüre ich noch einen Moment meinen Atem, vielleicht auch meinen Herzschlag. Meine Hände liegen auf dem Herzraum. Ich bete:

 

Mein Herr und mein Gott,

nimm alles von mir, was mich hindert zu dir.

Meine Arme öffnen sich und gehen über in eine leichte Verbeugung – und dann gehen die Hände zurück zum Herzraum

 

Mein Herr und mein Gott,

gib alles mir, was mich fördert zu dir.

Die Hände gehen nach oben, wie um etwas zu empfangen – und alles, was ich bekomme, führe ich zu meinem Herzen.

 

Mein Herr und mein Gott,

nimm mich mir und gib mich ganz zu eigen dir

Zuletzt öffnen sich die Arme weit nach außen, wie zur Kreuzform – und die Hände kommen wieder zurück zum Herzen.

 

Liebe Gemeinde, es tut mir gut, mich zu befreien von dem, was mein Herz bedrängt und es Gott zu überlassen. Ich muss nicht alles machen, ich kann es auch gar nicht. Die Welt retten sowieso nicht. Aber ich kann beten.

Und auf die kleinen Gesten der Liebe achten, das geht auch.

Und ich kann Gott bitten, so wie in dem Gebet von „Bruder Klaus“: gib mir das, was ich heute brauche und ich nehme es als Geschenk an.

 

Ich könnte auch überlegen, was ich heute tun kann als „kleine Tat der Barmherzigkeit“ für andere. Eine kleine Gefälligkeit in der Nachbarschaft oder ein überraschender Anruf bei einem lieben Menschen. Oder indem ich meine Lust aufs Reisen in neue Kanäle lenke. So könnte ich mal erforschen, wie es den Geflüchteten auf den griechischen Inseln tatsächlich ergeht und überlegen, wo und wie ich mich engagieren kann. Kleine Möglichkeiten gibt es immer. Ich muss nur bereit sein, meinen Horizont zu erweitern.

 

Und auch die dritte Bitte befreit: hilf mir, von mir selber abzusehen und auf dich zu schauen. Du bist doch da und siehst mich freundlich an. Vielleicht ist das Kreuz ja gar nicht so schwer, vielleicht ist Nachfolge auch nur ein anderes Wort für Vertrauen.

 

Liebe Gemeinde, lasst los und vertraut! Gott ist ja da. Der kleinste Raum, auch meine Wohnung kann zum Ort der Freiheit werden. Ich kann mich neu ausrichten und einen eigenen Weg versuchen in dieser komischen Zeit der Zumutung. Ein Weg der Barmherzigkeit, für mich und andere. Also Fasten in diesem Jahr tatsächlich mal anders: Nicht 7 Wochen ohne, sondern 7 Wochen mit neuen Perspektiven: auf das, was leuchtet, auf das, was gut tut. Auf das, was ich brauche und andere auch. Das ist mehr als Gesundheit und gute Laune. Das befreit.

So sei es.

Amen.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Dlf Gottesdienst