Predigt zum Nachlesen
Vor einem Jahr wurde in einer TV-Dokumentation einer der letzten christlichen Schafhirten Palästinas vorgestellt.
Ein Mann Anfang Siebzig. Schafhirte: ein aussterbender Beruf. Auch in Palästina.
Dieser beeindruckende alte Mann. Über 50 Jahre lang war er mit seinen Schafen im judäischen Bergland unterwegs.
Er lag die meiste Zeit unter einem Olivenbaum und hat die Herde nur durch kleine Signale gelenkt. Kleine Rufe. Kleine Gesten mit dem Stock. Pfiffe.
Kein Schaf ist ausgebüchst. Jedes wusste, wo es hingehört.
So wie dieser alte Mann seine Schafe im Griff hatte, ohne großen Aufwand, so kann das heute wohl niemand mehr.
Sein Sohn, der die Herde einmal erben wird, kann es jedenfalls nicht.
Der alte Hirte berichtete, dass seinem Sohn die Schafe weglaufen. Dem Jüngeren gelingt es nicht, eine Beziehung zu den Schafen aufzubauen. Die machen was sie wollen. Sie trauen dem jungen Hirten nicht.
Der wird sein Erbe nicht antreten.
Der alte Hirte weiß, dass nach ihm die Herde zum Schlachten verkauft wird.
Liebe Schwestern und Brüder,
Ein Hirte mit seiner Herde ist in unseren Breitengraden schon lange nicht mehr Bestandteil unseres täglichen Lebens. Und jetzt ist es auch in Palästina der Fall. Somit wird das Bild vom Hirten wirklich immer mehr ein Bild – und hat mit erfahrener Berufspraxis fast nichts mehr zu tun.
Ein gängiges Bild der Theologie lautet: Christus ist der Hirte – und die Gläubigen seine Schafe – also wir alle.
So einfach, so klassisch und dabei doch nicht so klar!
Denn wir Menschen sind keine Schafe, noch sind wir in irgendeiner Weise Wesen, die gegängelt werden und sich dabei wohlfühlen.
Bilder deuten an, sagen nie die ganze Wahrheit. Sie regen uns aber an, das Gezeigte weiter zu denken und darin Aspekte zu entdecken, um sich an die gemeinte Realität heran zu tasten.
Der gute Hirte ist da, ist aufmerksam, ist kein unmotivierter Arbeiter, sondern ein treusorgender Hüter, dem etwas an den Seinen liegt.
Seine Motivation ist die Liebe zu seiner Herde; sie ist sein Ein und Alles und für sie würde er alles geben, auch sein Leben.
Damit geht die gemeinte Figur schon weit über das hinaus, was man von einem „echten“ Hirten im „wahren Leben“ erwarten kann.
Und bei Christus dürfen wir uns auch sicher sein, dass er das alles nicht deshalb tut, weil er sein Leben mit der Herde bestreiten muss. Er tut es, weil ihm aus unergründlicher und nur dem Glauben einsichtiger Liebe einfach danach ist.
Diese Liebe kann kein menschliches Bild wirklich fassen, aber das des Hirten kommt ziemlich nahe heran an das, was gemeint ist.
Die Schafe sind da schon etwas problematischer und wenn man sich nicht von althergebrachten Bildern frei macht, wird man dem Gemeinten nicht auf die Spur kommen.
Der Mensch ist kein Schaf; er pocht mit Recht auf seinen freien Willen und folgt nicht nur instinktiv, ist nicht nur auf lebenserhaltende Nahrung bezogen, sondern von einem sehr komplexen Zusammenspiel verschiedenster Motivationen in seinem Leben geleitet.
Aber was das Schaf macht, steht auch dem Menschen im Grunde nicht schlecht zu Gesicht: vertrauen, erwarten, wissen um den, der zu den wirklichen Weiden führt.
Und dann auch diese Intimität, die so absolut notwendig ist – darüber reden wir Volkskirchenchristen traditionsgemäß nicht oft und auch nur schwerlich.
Aber gerade jetzt wo wir wegen Corona uns eben nicht zu einer „Herde“ zusammenfinden können und uns das Bild von uns als Schafen vielleicht noch fremder vorkommt als eh schon, finde ich es wichtig, sich über die Beziehung von mir als Einzel-Christ zu Gott im Klaren zu sein.
Im Erkennen der Stimme, im Wissen, wer ER ist, der da in mein Leben kommt und vorangeht. Das intuitive Wissen um den, der einem Gutes will.
Letztlich sagt uns das Bild des Hirten, dass Gott uns gerne und in aller Liebe leitet. Unser Beitrag dazu wäre Vertrauen, Hingabe und das „Bei-Ihm-Sein-Wollen“.
Gott wird dort zum guten Hirten, wo wir mit ihm rechnen, uns ihm betend anvertrauen, seine Stimme hören und erkennen.
Nicht blinder Gehorsam führt uns auf die Weiden des erfüllten Lebens, sondern sehendes Nachfolgen, Vertrautheit und eine starke Beziehung zu dem, der unser Leben mit der Leidenschaft eines wahren „himmlischen Hirten“ in die Bahnen lenkt, die mehr verheißen, als wir erträumen können. Und das auch in Zeiten von Corona.
Amen.
Es gilt das gesprochene Wort.