Das Pubertier
„Und wo ist das Pubertier?“ frage ich, nachdem ich die Tür in‘s Schloss gezogen habe. Ich freue mich auf das warme Wohnzimmer. Dort sitzt er: mein ältester Enkel. In letzter Zeit scheint er wesensverändert. Zumindest behaupten das seine Eltern. Er sei reizbar geworden, sagen sie.
In seiner Freizeit liegt er meist auf seinem Bett und „chillt“. Er verschließt sich. Seine moralischen Maßstäbe verteidigt er gern mal lautstark mit einem Hang zu Missverständnissen. Zum Essen muss man ihn zweimal einladen. Dann kommt er betont lässig aus seiner Bettenburg, um superkritisch die anderen Geschwister zu erziehen.
Nach seiner Meinung sind seine Eltern in einem schwierigen Alter. Jedenfalls fühlt er sich falsch behandelt. Und das oft.
Natürlich weiß ich, dass das die Hormone sind und der Gestaltwandel. Trotzdem werde auch ich manchmal zur Zielscheibe seiner Weltanalyse.
Der Übersetzungsfehler
Als Großvater hat man jedoch den großen Vorteil, für Alltagsabläufe nicht verantwortlich gemacht zu werden. Da geht es eher um Grundsätzliches.
„Weißt du eigentlich, dass die Übersetzungen von Liedern manchmal den Sinn der Texte total entstellen?“ Fragend schaut er mich an.
Englisch ist eines seiner Lieblingsfächer. Die Liebe zur Sprache haben wir gemeinsam.
„Du kennst doch die alte Verfilmung vom Dschungelbuch? Den Animationsfilm, in dem der Bär Baloo mit dem kleinen Mogli durch den Dschungel tanzt.
Der deutsche Text von dem Lied ist totaler Mist!“ behauptet er.
Ich habe gerade den Mantel abgelegt und die Schuhe gewechselt. Ich weiß überhaupt nicht, was er von mir will. Aber ich frage nach: „Wie kommst du denn darauf?“
„Na die singen da doch: “Probier‘s mal mit Gemütlichkeit, mit Ruhe und Gemütlichkeit jagst du den Alltag und die Sorgen weg.“ Sofort habe ich die Melodie im Kopf.
„Das ist der absolute Mist.“ Bricht mein Enkel in meine Gedankenmusik ein. „Eine total falsche Übersetzung ist das!“ Die Melodie kreist immer noch durch mein Gehirn.
„Weißt du, wie das im Englischen Original heißt? Hier: ‚Look for the bare necessities
The simple bare necessities, Forget about your worries and your strife‘. Ich habe das mal gegoogelt.“ Er hält mir ein Blatt Papier unter die Nase.
„Ja und was bedeutet das?“, frage ich zurück.
„Du sollst das machen, was notwendig ist; Das Wichtige und den anderen Kram einfach weglassen! Du sollst nicht irgendwelchen Sachen hinterher rennen, die sowieso nichts bringen. Kümmer dich nur um das, was dir wirklich am Herzen liegt!“
Die Kunst das Einfache zu lieben
Ähnliche Zeilen kenne ich aus der Bibel. Das sage ich aber nicht: „Und was ist das, was wichtig ist und notwendig?“ versuche ich nachzuhaken.
Mit der Antwort: „Was weiß ich!“ reißt er die Arme hoch und wendet sich ab. Der gute Ansatz bleibt im Nebel der Beliebigkeit stecken.
Jetzt aber hat er mich angesteckt. Gerade zum Jahreswechsel wünschen sich die Leute viel Glück, Erfolg, Wohlstand und überhaupt „alles Gute“. Aber das bleibt auch oft verdächtig unkonkret.
Ich muss zugeben, ich musste mir Hilfe holen. Ich schaue immer mal auf die täglichen Lesungen aus Taizè. Sie werden meist mit Sätzen des ehemaligen Priors Roger Schutz kommentiert. Dort fand ich im Dezember seine Antwort auf die Frage nach dem, was notwendig und wichtig ist:
„Zutiefst in uns regt sich ein Ruf nach innerer Freiheit. In ihr liegt Poesie. Sie freut sich an Kleinigkeiten: am Wind in den Bäumen, am wechselnden Licht des Himmels, an der engen Verbundenheit bei einer einfachen Mahlzeit, an der Nähe lieber Menschen, an Kindern …“
Ob unser Pubertier nach seiner Verwandlung diese Art Poesie für sich entdecken wird? Freiheit, Freude und die alltäglichen Beziehungen. Oder ob er erst die schmerzlichen Umwege gehen muss, wie so viele andere, die diese einfachen Dinge gering schätzen?