Predigt zum Nachlesen
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen. Amen.
Wir feiern Erntedank. Der Altar ist festlich geschmückt. Kartoffeln, Obst, Gemüse und Getreide sind zu sehen. Das Erntebrot liegt in der Mitte. Das ist ein toller Anblick! Bei uns in Eben-Ezer gilt: Menschen mit und ohne Behinderungen haben in der Landwirtschaft gemeinsam hart gearbeitet, um diese reichhaltige Ernte einzufahren. Auf dem Meierhof gibt es Ackerbau, Milchkühe und eine Biomolkerei. Der Inklusionsbetrieb „Lippe regional“ sorgt für den Vertrieb der Bioprodukte. Von unserer Milch, dem Joghurt, Kartoffeln und Grünkohl werden viele Menschen satt, auch über die Stiftung Eben-Ezer hinaus.
Erntedank ist also jedes Jahr ein besonderes Fest bei uns. Wir freuen uns sehr, dass Sie, liebe Hörerin, lieber Hörer, in diesem Jahr daran teilhaben!
Der Evangelist Markus erzählt auch eine Geschichte vom Sattwerden. Viertausend Menschen sind beisammen. Viele sind von weither gekommen. Drei Tage dauert die Versammlung schon. Jetzt soll es nach Hause gehen. Doch der Proviant ist aufgebraucht. Die lange Reise ist gefährlich. Jesus sorgt sich: „Wenn ich sie hungrig nach Hause schicke, werden sie unterwegs zusammenbrechen.“ Ein Drama zeichnet sich ab! Viertausend Menschen erkennen: Es ist nicht selbstverständlich, dass dieses Leben so weitergeht, wie wir es kennen.
Nichts ist selbstverständlich. Von einem Moment auf den anderen ändert sich das Leben – genau das haben auch wir in diesem Jahr erfahren. Corona mit all seinen Folgen begleitet uns seit einem ¾ Jahr. Wie gerne hätten wir heute in einer voll besetzten Kirche, mit großen Chören und mehr Beteiligten diesen Gottesdienst gefeiert. Doch das geht nicht. Auch bei uns in der Stiftung Eben-Ezer gilt vieles nicht mehr, was bis vor kurzem selbstverständlich war. Die Werkstätten und Schulen, Kindergärten und Cafés waren für lange Zeit geschlossen. In den Wohnangeboten für behinderte Menschen galten Kontakt- und Besuchsverbote. Undenkbar, wenn man sich das vor einem Jahr vorgestellt hätte. Doch Corona bedroht uns nach wie vor. Nur langsam tasten wir uns an einen neuen Alltag heran. Strenge Regeln und Vorschriften prägen das Leben: Hände waschen, Masken tragen, Abstand halten – es ist für Mitarbeiter und Klienten mühsam, wenn das in den Abläufen einer Einrichtung immer und immer wieder betont werden muss. Doch anders geht es nicht. Denn auch wir sorgen uns um das Leben. Ganz so, wie es die Menschen in unserer biblischen Geschichte tun. In Jesu Worten: „Wenn ich sie hungrig nach Hause schicke, werden sie unterwegs zusammenbrechen.“
Selbstverständlich ist also nichts, wenn wir in diesem Jahr am Erntedankfest auf die vergangenen Monate blicken. Selbstverständlich ist nichts, wenn wir Gott für die Gaben des Lebens danken.
Das gilt nicht nur für Corona. Das gilt auch für andere Themen. Denken wir an George Floyd und seinen verzweifelten Ruf: „I can’t breathe“ – „Ich kann nicht atmen.“ Diese Worte sind um die Welt gegangen. Mit großer Wucht haben sie in uns die Erkenntnis gebracht: selbst in Gesellschaften mit einer großen demokratischen Tradition ist es nicht selbstverständlich, dass der Staat zuerst die Würde des Menschen schützt und achtet. Diese Worte wurden auf Plakate geschrieben und auf Demonstrationen gerufen. Sie zeigen, dass es Vielerorts auf der Welt kein friedliches Zusammenleben gibt. Rassismus, Abgrenzung und Spaltung prägen stattdessen den Alltag. Menschen anderer Herkunft, Hautfarbe oder Religion werden angefeindet und ausgegrenzt. Ihnen bleibt die Luft weg, schon lange. Erntedank stellt jedes Jahr wieder die Frage, wie es denn aussieht mit der Gerechtigkeit in unserer Welt. Haben alle Menschen Zugang zu den reichhaltigen Gaben Gottes – so, wie sie sinnbildlich hier auf dem Altar in der Kirche zu sehen sind?
Martin Luther King hat diese Frage vor rund 60 Jahren ganz laut und kraftvoll gestellt. „I have a dream“ – „Ich habe einen Traum“ – das war sein Satz, der bis heute eine Sehnsucht in den Menschen weckt – und zwar eine Sehnsucht nach Gerechtigkeit, nach Solidarität, nach einer Welt, in der auch unsere Kinder und Enkel gut leben können. Die Musical-Lieder, die wir in diesem Gottesdienst hören, erzählen von dieser Sehnsucht.
Erntedank – das heißt also: Wir danken für das, was wir empfangen dürfen. Nichts davon ist selbstverständlich. Wir teilen, was wir haben. Doch Erntedank heißt auch: Wir teilen, wonach wir uns sehnen. Wir blicken nach vorn. Und dieser Blick ist voller Sehnsucht nach einem besseren Miteinander. Wie die Menschen in unserer biblischen Geschichte wollen wir nicht Hunger leiden. Vielmehr wollen wir in Frieden und Gerechtigkeit leben. Wir wollen uns gestärkt und kräftig auf den Weg machen, so wie es die viertausend Menschen tun, die mit Jesus versammelt sind. Diese Viertausend werden in ihrer aussichtslosen Lage nicht ihrem Schicksal überlassen. Ganz im Gegenteil: Jesus und die Jünger verteilen sieben Brote und „einige kleine Fische“ an die hungrigen Menschen. Alle werden satt und am Ende bleibt noch viel übrig. Gott stärkt sie und speist die Hungrigen. Er gibt ihnen Mut und Zuversicht. So treten sie ihren Weg nach Hause an. Am eigenen Leib erfahren sie: „Was nah ist und was ferne, von Gott kommt alles her.“
Diese Sehnsucht nach einer besseren Welt lässt auch die jungen Klimaaktivisten der Fridays for future-Bewegung auf die Straße gehen. Sie demonstrieren für mehr Klimaschutz und fordern mehr Verantwortung für die Zukunft. Ich finde es beeindruckend, dass so viele junge Menschen sich für das Klima stark machen. Gerade für uns in der Landwirtschaft ist das sehr wichtig. Wir bekommen die Folgen des Klimawandels selbst in Deutschland schon zu spüren. Auch für die Landwirtschaft gibt es so etwas wie das Ende der Selbstverständlichkeit. Es ist nicht mehr selbstverständlich, dass alles wächst, was wir anbauen. Die letzten Jahre waren sehr trocken, besonders im vergangenen Jahr waren die Böden richtig ausgetrocknet. Manche unserer Pflanzen, z.B. das Getreide aber auch die Kartoffeln und das Gemüse haben darunter gelitten und sind viel zu klein geblieben. Auch das Gras auf den Weiden wuchs spärlich und das Futter für die Tiere wurde knapp. Die Felder bringen nicht so gute Erträge wie früher. Und damit ist es auch nicht mehr selbstverständlich, dass es immer alles gibt. In anderen Teilen Deutschlands haben wir Bilder von vertrockneten Feldern gesehen und nun bemerken wir in vielen Gegenden, wie stark auch die Bäume in den Wäldern gelitten haben. Wir machen uns Sorgen um die Zukunft der Landwirtschaft. Wenn sich das Klima weiter so verändert, bedeutet das auch für unseren Anbau große Veränderungen.
In diesem Jahr führt uns zudem die Coronakrise vor Augen, dass wir als Gesellschaft auch unseren Umgang mit den Tieren überdenken und verändern müssen. Die Infektionsausbrüche in der Fleischindustrie haben vielen die Zustände dort vor Augen geführt. Viele haben gelernt: Mensch und Tier hängen zusammen. Die Würde darf nicht verletzt werden, weder die von Menschen, noch die von Tieren.
Auch Landwirtinnen und Landwirte wünschen sich mehr Gerechtigkeit und Solidarität und an vielen Stellen in Deutschland entsteht sie bereits: Ich erlebe, dass sich in unserem Land das Bewusstsein vieler Menschen verändert. Sie möchten wissen, woher die Produkte kommen, die sie essen, und sie sind bereit dafür einen gerechteren Preis zu bezahlen. Denn Lebensmittel, die mit Achtung und Respekt vor der Natur und den Tieren erzeugt werden, haben ihren Preis, das ist wichtig und darauf machen Landwirte immer wieder aufmerksam. Es gibt immer mehr Menschen, die gerne Produkte aus ihrer Region kaufen, als solche, die aus fernen Ländern eingeflogen wurden. Und ebenso tun sich Menschen zusammen und bebauen ein Stück Land oder einen Garten; säen, pflegen und ernten zusammen. Alle tragen Verantwortung. Und am Ende, nach getaner Arbeit, wird zusammen gefeiert. So, wie wir heute Erntedank feiern und so, wie die viertausend Menschen auf der Wiese am Abend mit Jesus gefeiert haben.
Auch bei uns in Lippe uns haben sich verschiedene Partner zusammengeschlossen, um ihre Produkte in unserer Region direkt an die Verbraucher zu vermarkten. Produkte, die ohne Gentechnik und in artgerechter Tierhaltung erzeugt wurden. Unser Bauernhof ist ein Teil davon. Die Verbundenheit in und mit der Region ist uns wichtig und stärkt uns auch in schwierigen Zeiten. Ich als Landwirtin bin stolz, wenn Lippe den Menschen schmeckt!
Uns in der Stiftung Eben-Ezer schmeckt es immer wieder! Wir sind dankbar, dass wir von dem, was in der Region angebaut wird, satt werden. Das ist alles andere als selbstverständlich. Wir erleben hier ein gutes Beispiel für Verbundenheit: Menschen mit und ohne Behinderungen arbeiten gemeinsam und nachhaltig. Gemeinsam mit vielen Partnern entsteht etwas Gutes für die Region. Zusammen kann man eben doch etwas bewegen. Nicht nur, aber gerade in schwierigen Zeiten brauchen wir eine solche Verbundenheit! Menschen übernehmen füreinander Verantwortung. Das ist der Kern für ein gutes Miteinander in der Gesellschaft. Ich glaube, das ist auch der Kern der biblischen Geschichte von der Speisung der viertausend. Denn auch dort haben Menschen Verantwortung füreinander übernommen. Sie teilen, was vorhanden ist: die Jünger hatten Brot und Fisch. Andere haben vielleicht noch andere Gaben beigefügt. Ein Wunder, dass sie die knappen Vorräte nicht in den Taschen versteckt und nur für sich behalten haben! Ein Wunder, dass alles miteinander geteilt wurde! Die kleinen Dinge ebenso wie die großen. Wunderbar, wenn das gelingt! Alle werden satt. Denn Gott sorgt für uns im Überfluss. Am Ende bleibt schließlich sogar noch etwas übrig. Also: Wunder können geschehen, wenn Menschen füreinander Verantwortung übernehmen. Träume werden wahr. Sehnsucht wird erfüllt – ja wenn, wenn wir denn auch etwas dafür tun. Jesus hat an dieses Wunder geglaubt. Deshalb ließ er teilen. Und zwar nicht nur unter seiner Anhängerschaft, sondern unter allen, die da waren: Erntedank.
In der Stiftung Eben-Ezer ist unser Motto „Leben in Vielfalt“. Das heißt, dass wir die Vielfalt der Menschen als Bereicherung verstehen. Wir wollen, dass auch bei uns alle Menschen ihre Gabe zum Leben erhalten – und wir wollen, dass die Menschen gemäß ihrer Gaben und Begabungen ein vielfältiges Leben führen. Gerechte Teilhabe am Leben der Gesellschaft – das ist das Ziel. Das ist die Sehnsucht, die uns antreibt. Das ist der Traum, der Tun und Handeln in der Diakonie bestimmt.
Jesus hat diesen Traum wahr gemacht. Damals, als viertausend Menschen mit ihm zusammen waren. Juden und Nichtjuden, Männer, Frauen und Kinder, Menschen mit und ohne Behinderung, Kranke und Gesunde, Farbige und Weiße. Was für ein Fest, als sie trotz aller Sorgen miteinander geteilt haben und satt wurden. Was für ein Aufbruch, als sie sich nach dieser Stärkung auf den Weg nach Hause machen!
Genau so sollten wir dieses Jahr Erntedankfest feiern. Dankbar teilen und voller Vertrauen in die Zukunft gehen. In einer Zeit, in der viele Selbstverständlichkeiten ein Ende haben, feiern wir das, was noch nie selbstverständlich war und es nie sein wird: Dass wir satt werden von dem, was die Erde uns schenkt, was durch unsere Hände geht, aber von Gott her kommt.
„Und Jesus forderte die Volksmenge auf, sich auf dem Boden niederzulassen. Dann nahm er die sieben Brote. Er dankte Gott, brach sie in Stücke und gab sie den Jüngern zum Verteilen. Und die Jünger teilten das Brot an die Volksmenge aus. Sie hatten auch noch einige kleine Fische. (…) Die Menschen aßen und wurden satt.“
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle menschliche Vernunft, sei mit uns allen. Amen.
„I have a dream“ - „Ich habe einen Traum“. Das sind die berühmten Worte von Martin Luther King. Sein Traum von einem Leben in Gerechtigkeit ist auch unser Traum.
Es gilt das gesprochene Wort.