Die Macht des Gebets
Pfarrer Ulrich Haag
12.02.2011 21:10

Nichts müssen die Mächtigen so sehr fürchten, wie das Gebet. Demonstranten kann man mit Drohungen einschüchtern oder mit Knüppeln auseinandertreiben. Man kann sie mit Volksreden verunsichern. Wie auch immer man sie zum Verstummen bringen will: Wenn sie beginnen zu beten, öffentlich, gemeinsam, dann ist das der Anfang vom Ende eines Regimes. Wir haben das von den Montagsdemonstrationen in Leipzig in Erinnerung. An deren Beginn standen die Gebete in der Nikolaikirche. Mehr als zwanzig Jahre ist das her. Und heute sehen wir es auf dem Tahrirplatz in Kairo: Tausende, auf den Knien betend. Rücken neben Rücken, jeder für sich und doch verbunden durch ein unsichtbares Band. Ein Bild des Friedens – bei allen Gegensätzen. Ein Bild der Ermutigung.

Menschen, die gemeinsam beten, fühlen sich einer Macht verbunden, die höher ist als alle irdische Gewalt. Das gibt ihnen den Mut, sich einzusetzen für das, was ihnen wertvoll ist. Trotz Stasi und Geheimpolizei. Trotz der Panzer, die um sie her Stellung beziehen. Menschen, die beten, werden unempfänglich für die Drohungen des Apparats. Sie fühlen sich nicht mehr als Rädchen im Getriebe, nicht mehr als Opfer eines Systems. Sie beten, beugen sich in Demut, heben den Blick, und erkennen mit einem Mal keinen Staatsratsvorsitzenden mehr, keine Revolutionsführer oder Oberbefehlshaber. Da oben wohnt für sie nur einer. Der sieht. Der hört. Der selber für Gerechtigkeit eintritt.

Nichts müssen die Machthaber so sehr fürchten, wie das Gebet. Und haben schon immer versucht, sich der Gebete ihrer Untertanen zu bemächtigen. Haben Kathedralen errichtet, Tempel, Moscheen. Haben Kultbeamte eingesetzt und prachtvolle Zeremonien ersonnen. Haben die Gebete hinter Mauern verbannt und in Formeln gepresst. Doch die Sehnsucht der Menschen, aufrichtig und unverstellt zu Gott zu sprechen, ist unausrottbar. Wenn die Gebete die Mauern verlassen, wenn sie die Straßen und Plätze erreichen, zittern die Herrschenden, lavieren die Verwalter der Sachzwänge.

Und lamentieren die Religionswächter. Denn ihre Gläubigen lassen sich plötzlich nicht mehr teilen. In falsch und richtig. In Gottesverehrer und Gottesverächter. Die Demonstranten auf der Tahrirplatz in Kairo haben kürzlich einen dieser kostbaren Momente erlebt: Mitten im Aufruhr begannen koptische Christen, einen Gottesdienst zu feiern. Und Muslime waren es, die sie dabei schützten. Die eine Menschenkette bildeten, in deren Mitte die Betenden vor Übergriffen sicher sein konnten. Wenig später waren es Christen, die das gleiche taten, als die muslimischen Geschwister ihre Gebete verrichteten. Wo Menschen sich aufrichtig an Gott wenden, verschwindet das, was sie trennt. Sie erkennen: Der neben mir hat das gleiche Anliegen. Er betet vielleicht mit anderen Worten, mit anderen Gesten. Aber mit derselben Haltung. Mit derselben Hingabe an den, dessen Kinder wir sind. Alle. Gleich welcher Herkunft. Gleich welcher Religion.

Denen, die so beten, gehört die Welt von Morgen.

Wenn ich die Bilder aus Kairo sehe, geht mir auch ein Gebet durch den Kopf. Dass das, was dort begonnen hat, trotz aller Rückschläge ohne weiteres Blutvergießen zum Ziel führt. Dass der Moment der Versöhnung, den Muslime und Christen dort erlebt haben, sich ausbreitet. Und das Zusammenleben der Menschen bestimmt. An allen Orten. Zu jeder Zeit.
 

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