I
«Herr, wie lange willst du mein so gar vergessen?»
Nachts liegt er wach. Sein Körper unbeugsam. Er kann sich nicht drehen. Bereits mehrmals hat er für die Pflege geläutet. Als jemand kommt, heisst es: Gleich. Es gibt noch so viele andere Patienten. Er geht vergessen.
«Wie lange verbirgst du dein Angesicht vor mir?»
Eine andere Szene: Erst war es bloss eine Vermutung, fast schon lustig, weil so klassisch: ein fremder Duft an seinem Hemd? Später dann Anrufe: ´tschuldigung, verwählt. Inzwischen verbringt sie viel Zeit alleine. Am schlimmsten ist ihre Scham darüber, dass sie ihn noch immer liebt.
«Wie lange soll ich sorgen in meiner Seele und mich ängsten in meinem Herzen täglich?»
Bereits sein Vater hat die Gemüsefelder auf Bio umgestellt. Er konnte einen florierenden Betrieb übernehmen, einige Investitionen in Maschinen und Kühlräume tätigen. Seit einigen Jahren Wetterkapriolen. Salat, Kohl und Zucchetti im Hagel verloren. Nun seit Tagen kein Regen. Mittelfristig Bangen um die Ernte. Langfristig um den ganzen Betrieb.
«Wie lange soll sich mein Feind über mich erheben?»
Seit ihrer Geburt ist sie auf der Flucht. Die Mutter hat Friedenszeiten noch erlebt. Sie erzählt manchmal von der Schule, vom Haus mit Türe und Schlüssel. Sie selbst kennt nur das Camp. Sie achtet darauf, nicht alleine zur Toilette gehen zu müssen. Den Bruder hat man für den Krieg geholt.
Wie lange noch? - Manche Dinge würde man besser ertragen, wenn man wüsste, wie lange sie dauern. Oder eben: wann sie aufhören. Man könnte die Kräfte einteilen; man könnte sich auf das „Danach“ vertrösten; man könnte Entscheidungen treffen; man könnte etwas gelassener ertragen…Wie lange noch?
Wenn Menschen zu mir in die Seelsorge kommen, vertrauen sie mir ihre Ängste und Nöte an. Es ist erstaunlich, was Menschen alles tragen müssen – aber eben auch können. Manchmal frage ich: „Woher nehmen Sie denn die Kraft, dass Sie das alles bewältigen?“ Oft kommt als erste Reaktion „Ich weiss es nicht“, dann nach einer Weile tastende Antworten:
-Einmal die Woche gehe ich mit einer Freundin Kaffee trinken
-Oder: Ich schaue mir Fotos aus besseren Tagen an
-Oder: Ich weine, das befreit mich
-Und manchmal: Ich bete, ich rede mit Gott.
Erst bei diesen Antworten wird vielen bewusst, welche Ressourcen in ihnen schlummern, auf welche Bewältigungsstrategien sie zurückgreifen können. Und sehr oft merkt man dies erst, wenn man eine schwierige Situation überstanden hat.
Manchmal liegen die schweren Zeiten aber nicht hinter uns, sondern vor uns. Ominös, diffus, nicht greifbar kriechen sie uns unter die Haut und pflanzen Angst. Solche Situationen können wir nicht auf Anhieb bewältigen. Wie wappnen wir uns für Zeiten, von denen wir nicht wissen, was sie uns bringen werden? Wie soll ich das bloss schaffen?
II
Jesaja rechnet mit Gott. Er ist überzeugt: in aller Ohnmacht steht Gott für die Menschen seines Volkes ein.
Wie schaffe ich das? – Gar nicht, Gott schafft es für mich. Das wäre wohl die Antwort Jesajas.
Gott zieht eine Waffenrüstung an. Es ist ein kriegerisches Bild. Ein Bild, das zu Menschen spricht, die nichts anderes als Krieg und Gewalt erlebt haben. Vielleicht verstehen wir das Bild ein bisschen, wenn wir uns vor Augen führen, wer sich denn hier nach Gerechtigkeit und Recht sehnt: Es sind Menschen ohne Macht, ohne Privilegien. Menschen, die weder einen Schuppenpanzer, noch einen Helm, noch einen Kriegsmantel haben – all dem aber immer wieder ausgeliefert werden. Sie sehen ihre mächtigen Gegner und wissen: diesen ist nur etwas entgegenzustellen, das genau so stark und mächtig ist und dieselbe Sprache spricht…
Jesaja erhofft sich von Gott all das, was er so schmerzlich vermisst: Gerechtigkeit, Erlösung, Rache, Eifer. Menschen, die an Gott glauben, setzen auf ihn in ihrer grössten Ohnmacht. Wer sonst soll für sie einstehen? Es brauchen keine Kriegserfahrungen zu sein. Ohnmächtig fühlen kann man sich auch in Krankheit, in Einsamkeit, in Verleumdung, in Trauer. Je nachdem ändert sich die Vorstellung des helfenden Gottes.
In Krankheit braucht Gott kein Krieger zu sein, aber Arzt, der heilen kann.
In Einsamkeit wird er Vater oder Mutter, die tröstet und wiegt.
In Verleumdung der Anwalt, der sich schützend vor mich stellt.
In Trauer der Auferstandene, der Leben über den Tod garantiert.
Wie lange willst du mein so ganz und gar vergessen?
Jesajas Worte sind ein eindrücklicher Weckruf an Gott, für die Hilflosen und Ohnmächtigen einzustehen. Für all diejenigen, die sagen müssen: Ich schaff’s nicht allein. Es ist Klage und Appell: Es kann nicht sein, Gott, dass Du uns, dass Du mich vergisst. Du hast Deine Verheissungen zu erfüllen, dass Dein Reich in dieser Welt anbricht. Dass ein neuer Himmel und eine neue Erde kommen. Dass Du bei uns wohnst und unser Gott bist. Dass Du jede Träne abwischst, und der Tod nicht mehr sein wird. Kein Leid, kein Geschrei, keine Mühsal mehr. Ja, Gott, wir bitten Dich: wenn keiner da ist, der für uns einsteht, dann sei entsetzt.
III
Manch einem wird das zuwenig sein: Bloss auf Gottes Hilfe warten? Und wenn die nicht kommt? Muss ich mein Schicksal nicht selbst in die Hand nehmen? Will ich mich auf Gedeih und Verderb der Gunst anderer aussetzen? Was habe ich – ich ganz persönlich – all dem Bösen, Traurigen, Zermürbenden entgegenzusetzen?
“I got a crown, a robe, a savior up in that kingdom. Ain’t that good news?” sang vorhin der Jugendchor.
Ich habe eine Krone, einen Mantel, einen Retter oben im Himmelreich. Sind das nicht tolle Nachrichten?
- Ich blieb gedanklich am Mantel hängen. Ich habe einen Mantel im Himmelreich? Meine Garderobe hängt bei Gott? Ich musste etwas schmunzeln bei diesem Gedanken. Und plötzlich merkte ich, wie tiefsinnig das Wort «Garderobe» doch ist: Die Garderobe, la garde-robe, ist das Ding, das auf meine Kleider aufpasst. Könnte es sein, dass mein Seelenkostüm im Himmel behütet wird?
«Werdet stark im Herrn und in der Kraft seiner Stärke» sagt der Verfasser des Epheserbriefes.
Du bist stark! Du schaffst das! Du hast Ressourcen, von denen Du noch gar nichts ahnst…
Und im selben Moment stibitzt er die Waffenrüstung, die vorhin noch Gott trug, und bringt sie den Menschen:
«Und schliesslich: Werdet stark im Herrn und in der Kraft seiner Stärke! Zieht die Waffenrüstung Gottes an, damit ihr den Machenschaften des Arglistigen entgegentreten könnt! Denn es ist für uns kein Kampf gegen Fleisch und Blut, sondern gegen die Mächte, die Gewalten und die Herrschaften der Finsternis (…)
Deshalb: Streift euch die Waffenrüstung Gottes über, damit ihr an bösen Tagen widerstehen könnt und es fertig bringt, stark zu bleiben.
Seid also stark: Gürtet eure Hüften mit Wahrheit, zieht an die Brustplatte der Gerechtigkeit, bindet an eure Füsse die Bereitschaft für die Frohbotschaft des Friedens und erhebt den Schild des Glaubens, damit ihr alle brennenden Pfeile des Bösen abwehren könnt. Empfangt den Helm der Erlösung und das Schwert des Geistes, der Gottes Wort ist».
Wahrheit, Gerechtigkeit, Friedfertigkeit, Glauben, Erlösung, Geist Gottes… Das sind die Mittel – oder darf ich sagen: die Waffen? – die Paulus uns im Epheserbrief in die Finger drückt. „Zieh an!“ sagt er. „Du hast dem Bösen und Widerwärtigen tatsächlich etwas entgegenzustellen: all die Gaben, die Gott Dir im Glauben schenkt.
«Wie soll ich das schaffen?», denkt sich so manche in Anbetracht von Krieg, drohendem Energiemangel, Klimawandel, Hungersnöten, Millionen von Menschen auf der Flucht, Tierleid. Ganz zu schweigen von den eigenen Beziehungskrisen, Schmerzen, körperlichem und geistigem Zerfall, Angst und Depression, Existenzsorgen und drückender Verantwortung.
„Wie soll ich das bloss schaffen? Mit ein bisschen Gerechtigkeit? Ein bisschen Wahrheit?
Ein bisschen Frieden, ein bisschen Träumen, und dass die Menschen nicht so oft weinen? Dass ich nicht lache! Was, bitteschön, sollen das für Waffen sein, mit denen wir uns hier alleine durchschlagen sollen?
Ich habe Ihnen vom Mann erzählt, der nachts vergeblich auf die Pflege wartet.
Sein Körper erlahmt Stück um Stück. Für alle Verrichtungen, für jede Drehung braucht er Hilfe. Wenn niemand kommt, steigt langsam Zorn in ihm hoch. Er weiss: das Pflegepersonal kann nichts dafür – es ist oft überfordert mit der Menge der Aufgaben. Ohnmächtig ist er struktureller Gewalt ausgeliefert. Und was tut er? Er singt. Kirchenlieder, die er mal auswendig gelernt hat. Am liebsten mag er:
Ein feste Burg ist unser Gott,/ ein gute Wehr und Waffen./ Er hilft uns frei aus aller Not,/ die uns jetzt hat betroffen./ Der alt böse Feind,/ mit Ernst er’s jetzt meint;/ gross Macht und viel List/ sein grausam Rüstung ist;/ auf Erd ist nicht seinsgleichen.
Er singt. Und die Melodien und Worte dieser alten Lieder, die vor ihm Tausende von Menschen gesungen haben und nach ihm Tausende von Menschen singen werden, spinnen ein feines Geflecht um seine Seele, seinen Geist. Ein Geflecht aus Geduld (noch mehr), Zuversicht, Gelassenheit und Verständnis (ja selbst das). Oft habe er sein ganzes Repertoire durchgesungen bis die Pflege kommt. Der Zorn: verflogen.
Liebe Gemeinde, sich zwischendurch die Garderobe Gottes auszuleihen heisst nicht, dass man alle Probleme bewältigen, allen Schaden abwenden kann.
Wenn wir aber unsere Seelen und unseren Geist gegen alle Widrigkeiten, die die Welt und die Menschen zu bieten haben, stärken können – dann sollten wir das doch tun. Oder nicht?
Dann können wir – vielleicht, im Nachhinein – wenn wir gefragt werden: „Wie hast du das geschafft?“, antworten:
Ich habe meine Hüften mit Wahrheit gegürtet.
Ich habe die Gerechtigkeit wie einen Brustpanzer vor mir hergetragen.
Die Sandalen des Friedens haben mir erstaunlicherweise festen Tritt verliehen.
Ich habe geglaubt. Und das Böse prallte wie an einem Schutzschild ab.
Und manchmal wirkt das rechte Wort zur rechten Zeit wie ein Schwert.
Ain’t that good news? – Sind das nicht tolle Neuigkeiten?
Amen
Es gilt das gesprochene Wort.
Andrea Aebi
Pfarrerin I Radio/TV-Beauftragte
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