Predigt zum Nachlesen:
I
Liebe Gemeinde, liebe Hörerinnen und Hörer,
zehn Namen habe wir vorhin gehört. Zehn Menschen, deren Leben ausgelöscht wurde in zwei Kriegen, die von deutschem Boden ausgingen. In zwei Kriegen, in denen sich auch Frankreich und Deutschland feindlich gegenüberstanden. Generationen von Deutschen und Franzosen hatten gelernt, die Nachbarn als Erbfeinde zu betrachten.
Raphaelle Hückstädt, die den Gottesdienst heute mitgestaltet, ist Französin. Seit 25 Jahren lebt sie in Tübingen. Regelmäßig besucht sie die Feiern zum Volkstrauertag. Liebe Frau Hückstädt, was bewegt Sie dabei?
Seitdem ich in einem Dorf bei Tübingen wohne, erlebe ich den Volkstrauertag ganz persönlich, immer persönlicher sogar. Am Anfang war es ganz zufällig: nach dem Gottesdienst ging es zum nahstehenden “Kriegerdenkmal”, und ich war ganz überrascht, dass so viele andere Menschen da waren – in der Musikkapelle, im Chor oder einfach so. Der Ortsvorsteher sprach über seine eigene Freundschaft mit französischen Arbeitskollegen und darüber, wie es sein sollte: Versöhnung und Freundschaft, Kooperation und Zusammenleben.
Die Symbolik dieses Augenblicks prägte sich mir ganz tief ein: diese so unterschiedlichen Menschen, gesammelt um die ehemaligen Dorfbewohner, die viel zu früh aus dem Leben gerissen worden waren. Es wurde mir bewusst, dass ich als Französin in diesem deutschen Kreis ein lebendiges Symbol bin – und ich bin seitdem jedes Jahr froh über diese Veranstaltung: nicht nur eine Zeremonie unter Deutschen, nicht nur unter älteren Leuten, sondern mit mir und meinen Kindern, letztes Jahr mit ukrainischen und russischen Freunden, dieses Jahr im Herzen mit israelischen und palästinensischen Bekannten.
Angesichts so vieler Krisensituationen zwischen benachbarten Regionen und Länder in der heutigen Welt, zeigt sich mir an diesem Tag immer wieder neu, wie wenig selbstverständlich es ist, dass ich als Französin, mit einem Deutschen verheiratet, hier in Frieden leben kann!! Gleichberechtigt und mit Kindern, die sich genauso selbstverständlich als Deutsche wie auch als Franzosen verstehen.
Sie sind auch Historikerin. Ihre Forschungsarbeit widmen Sie derzeit der Situation von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern in Tübingen zur NS-Zeit. Mit den Namen und Schicksalen, von denen wir vorhin gehört haben, haben Sie sich intensiv auseinandergesetzt. Wie wichtig ist der Blick zurück, um eine bessere Zukunft zu gestalten?
Das ist sehr wichtig – und ich bin allen dankbar, die sich schon früher dieser Aufgabe gewidmet haben. Das mühsame Sammeln von Informationen, die lange ungern gesehene Recherche von wenigen abseits der Öffentlichkeit und ihr Durchhalten – das ermöglicht heute, dass das Unrecht beleuchtet wird. Dadurch bekommen Nummern endlich wieder einen Namen. Und es können schließlich Brücken geschlagen werden an Stellen, wo das Nicht-wissen und das Nicht-wissen-wollen wie tiefe Gräben wirken. Ein winziger und gleichzeitig riesiger Beitrag zur Erinnerungskultur, die unermüdlich fordert: “Nie wieder”.
Dass heute nicht nur Friede herrscht, sondern sogar eine Freundschaft entstanden ist zwischen Deutschland und Frankreich, war ein langer Weg.
Es gab natürlich die großen Meilensteine in der Politik. Im Juli 1962 besuchten Konrad Adenauer und Charles de Gaulle gemeinsam eine Versöhnungsmesse in der Kathedrale von Reims. Und vor sechzig Jahren, im Januar 1963, umarmten sie sich anlässlich der Unterzeichnung des Elysée-Vertrags, der die „Freundschaft“ zwischen Deutschland und Frankreich institutionalisierte.
Im September 1984 gingen Helmut Kohl und François Mitterrand Hand in Hand vor das Beinhaus von Douaumont bei Verdun, 2004 umarmten sich Gerhard Schröder und Jacques Chirac bei einer Gedenkfeier zum 60. Jahrestag der Landung der Alliierten in der Normandie, bei der zum ersten Mal ein deutscher Kanzler eingeladen war. Und im September 2013 besuchten Bundespräsident Joachim Gauck und Staatspräsident François Hollande Oradour, wo im Juni 1944 SS-Soldaten das Massaker von Oradour verübt hatten.
Das waren die großen Zeichen. Aber wie viel Energie musste und muss in diese Völkerverständigung fließen, wie viele Menschen mussten sie zu ihrer Lebensaufgabe machen, damit Missverständnisse und Verachtung über mehrere Generationen zu Freundschaft und Kooperation werden konnten?
Millionen Menschen von beiden Seiten des Rheins, und das seit sechzig Jahren und mehr, leben es mit ihrem Alltag und ihrem Tun vor: Was für ein Hoffnungszeichen in der heutigen Zeit!
Sie engagieren sich auch in der Kirchengemeinde. Was trägt aus Ihrer Sicht der christliche Glaube zur Verständigung bei?
Für mich als Christin ist diese Botschaft im Evangelium so wichtig: Jesus ist der Eckstein. Ich baue auf ihn, und ich bin mir meiner Basis sicher. Wenn Jesus sagt: “Liebt Eure Feinde”, dann sind das nicht nur Wörter. Es bedeutet für mich: Ändere deinen Blick, sieh in jedem Menschen, was er ist, was euch verbindet. Leg das Trennende aktiv zur Seite und suche das Verbindende.
II
Liebe Gemeinde,
„Ihr seid also jetzt nicht mehr Fremde, sondern Mitbürger und Hausgenossen.“ Das könnte ein Satz aus einer Rede über die Früchte der deutsch-französischen Freundschaft sein. Ja, das können wir heute sagen als Deutsche, als Französinnen und Franzosen: Selbst wenn wir einander nicht persönlich kennen – wir sind einander keine Fremden. Wir sind, diesseits und jenseits des Rheins, Hausgenossen im Haus Europa, Mitbürgerinnen in der Europäischen Union. Dass wir das so sagen können, dass aus Fremden, ja Feinden, Hausgenossen geworden sind, ist ein großes Geschenk.
„Ihr seid also jetzt nicht mehr Fremde, sondern Mitbürger und Hausgenossen.“ Der Satz ist aber viel älter als die deutsch-französische Freundschaft. Er steht in der Bibel, im Brief an die Gemeinde in Ephesus. In den frühen christlichen Gemeinden kamen Menschen jüdischer Herkunft und Menschen aus anderen Völkern und Nationen zusammen – und sie lebten Gemeinschaft über alle politischen und religiösen Grenzen hinweg. Der Verfasser des Briefes an die Epheser denkt deshalb darüber nach, wie Frieden, ja enge Gemeinschaft entsteht zwischen Menschen, die einander fremd waren. Im zweiten Kapitel des Epheserbriefs schreibt er:
„Jesus Christus ist gekommen und hat im Evangelium Frieden verkündigt euch, die ihr fern wart, und Frieden denen, die nahe waren. Denn durch ihn haben wir alle beide in einem Geist den Zugang zum Vater. So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen, erbaut auf den Grund der Apostel und Propheten, da Jesus Christus der Eckstein ist, auf welchem der ganze Bau ineinandergefügt wächst zu einem heiligen Tempel in dem Herrn. Durch ihn werdet auch ihr mit erbaut zu einer Wohnung Gottes im Geist.“
Wie kann Frieden, ja Gemeinschaft entstehen unter Menschen, die sich fremd oder sogar feindlich gesinnt waren? Für den Verfasser des Epheserbriefes ist die Antwort klar. Durch Jesus Christus. Jesus hat Frieden verkündigt, schreibt er, und noch mehr: Jesus hat allen Menschen, egal woher sie kommen, einen Weg zu Gott gezeigt – und ihnen einen Platz gegeben im Haus Gottes. Niemand muss draußen bleiben, und niemand ist nur Gast, sondern jeder und jede gehört gleichberechtigt zu dieser großen Wohngemeinschaft. Und wohnt Tür an Tür mit Gott selbst.
Und wie war das mit dem Frieden, der Freundschaft zwischen Deutschland und Frankreich? Nun, zuerst musste äußerer Friede werden, mussten die Waffen schweigen. Aber das reicht noch nicht, wie man am Ende des ersten Weltkriegs sehen kann. Auch damals schwiegen die Waffen. Aber echter Friede zwischen den Völkern wurde nicht. Damit wirklich Friede wird, braucht es mehr: Es braucht Menschen, die einsehen, dass sie Schuld auf sich geladen haben. Die um Vergebung bitten und verzeihen können. Und die daran glauben, dass eine andere, eine bessere Zukunft möglich ist.
Diese Menschen hat es gegeben auf beiden Seiten des Rheins – und für viele war auch der christliche Glaube ein Anstoß, sich für Versöhnung einzusetzen. Schuld und Vergebung und die Hoffnung auf eine bessere, gerechtere, friedlichere Zukunft – das sind genau die Fragen, um die die Geschichten und Reden von Jesus kreisen: Wir sollen einander vergeben, weil Gott uns vergibt.
Und wir können gemeinsam an einer besseren Zukunft arbeiten, die Gott uns verheißt. So hat der Mann aus Nazareth gepredigt. Und hat dabei zu seiner Zeit viele Schranken in den Köpfen überwunden: zwischen Frommen und Heiden, Besatzern und Besetzten, Armen und Reichen.
Schranken überwinden – das ist auch heute noch eine Aufgabe. Sicher: Die Welt ist vernetzt, Jugendliche heute haben ihre Austauschpartner aus aller Welt in den Sozialen Medien längst als Freundschafts-Kontakt aufgenommen, bevor sie sich live begegnen. Trotzdem: Das gemeinsame Haus Europa wird an seinen Außenmauern hart gegen unerwünschte Eindringlinge verteidigt. Können wir irgendwann auch diese Schranken überwinden – und Gerechtigkeit schaffen zwischen Nord und Süd?
Auch innerhalb Europas wird der Ton heute schärfer, nicht nur beim Thema Migration, sondern auch, wenn um es nationale wirtschaftliche Interessen geht, um Klimaschutz oder auch darum, wie liberal eine Gesellschaft sein darf.
Das Wirtschaftswunder hat die Annäherung zwischen Deutschland und Frankreich vor sechzig Jahren sicher erleichtert. Wer das Gefühl hat, es wird ihm einmal besser gehen als den Generationen vor ihm, teilt leichter. Wer aber das Gefühl hat, seinen Wohlstand verteidigen zu müssen, der schaut eher misstrauisch auf die Nachbarn.
Deshalb glaube ich: Es bleibt wichtig, die Botschaft von Jesus lebendig zu halten. Weil Jesus vom Frieden nicht nur spricht, sondern ihn auch schenkt – indem er jedem und jeder zusagt: Es gibt einen Platz für dich. Du hast einen Ort, um den du nicht kämpfen musst, wo du nicht nur Gast bist, sondern wirklich dazugehörst. Wo du zuhause bist.
Ja, es tut mir gut zu spüren: Meinen Platz in Gottes Haus muss ich mir nicht verdienen – er ist schon da für mich, heute und in Zukunft. Aber es ist dort eben nicht nur Platz für mich, sondern für alle anderen auch. Denn wir alle sind schon jetzt Mitbewohnerinnen und Mitbewohner in Gottes großer Hausgemeinschaft. Und wir sind als Nachbarinnen und Nachbarn füreinander verantwortlich.
Eines Tages, das hoffe ich mit Jesus, werden wir tatsächlich alle als eine große Familie zusammenleben in Gottes Geist. Bis dahin sind wir miteinander auf dem Weg, den Frieden zu suchen im Kleinen – für uns selbst und füreinander. Frieden im Kleinen. Das kann damit beginnen, was wir in der Lesung aus dem Matthäusevangelium vorhin gehört haben: Hungrigen zu essen geben. Fremde aufnehmen. Kranke besuchen. Denn überall dort ist Christus. Und sein Friede.
Amen
Es gilt das gesprochene Wort.