Predigt zum Nachlesen:
Pastor Henning Ernst:
Liebe Gemeinde, was gibt uns Hoffnung? Was ist Hoffnung überhaupt? Ich glaube, sie ist nichts Starres, kein Besitz. Ich finde sie manchmal bei einem Gespräch, entdecke sie in einer guten Geschichte und verliere sie wieder bei den nächsten Nachrichten im Radio. Ich bin Pastor für Männerarbeit in der Nordkirche und begleite viele Männer-Gruppen. Da sind wir oft auf der Suche nach dem, was uns Halt und Hoffnung gibt. Und mir helfen die Gespräche mit meinem Freund Ludger Iske, der hier in der Region Hausarzt ist. Wir haben drei Fallstricke ausgemacht, die uns vom Weg zur Hoffnung abbringen können.
Ludger Iske hat das Lied geschrieben, das wir eben gehört haben. Ein Lied über das Leben als „Wunderbares Spiel“. Ludger, du singst über das Spiel mit diesem „hoffnungslosen Blatt“ und sagst, man sei „…vom ersten Zug schachmatt“. Gibt es also keine Hoffnung?
Dr. Ludger Iske:
Ja und ob! Aber ich finde den Realismus gut, der in dem Psalm in der Bibel vorkommt: „Auch wenn ich wandere im Tal des Todesschattens, fürchte ich kein Unheil.“ Wenn ich das Leben als Spiel sehe, dann ist schon beim ersten Spielzug klar: Meine Zeit läuft ab. Die Unsterblichkeit kann ich nicht gewinnen. Aber nun kommt das Aber, das mir Hoffnung gibt: Alles dazwischen ist ein Geschenk, trotz aller Brüche und Verluste.
Pastor Henning Ernst:
Ja gut, aber was, wenn die Verluste zu groß werden, wenn der Schmerz einem den Boden unter den Füßen wegzieht?
Dr. Ludger Iske:
Tief beeindruckt hat mich der Witwer, der seine Frau bei dem Terroranschlag auf das Bataclan in Paris verloren hat. Er wollte nicht in blinde Wut verfallen. Schon wegen seiner Tochter nicht. Er hat das Buch geschrieben: "Meinen Hass bekommt ihr nicht". Das ist wahrscheinlich ein Weg, um nicht zu verzweifeln und die Hoffnung nicht zu verlieren.
Pastor Henning Ernst:
Sich nicht vom Hass beherrschen lassen. Das erfordert eine enorme innere Kraft. Es ist eine große Kunst, sich vom Gefühl der Ohnmacht angesichts so vieler auf uns zukommenden Gefahren nicht unterkriegen zu lassen und sich wieder als kreativ und wirksam zu erleben. Das braucht „gigantischen Einsatz“.
Dr. Ludger Iske:
Das ist ja deshalb so schwer, weil so viele Kraftanstrengungen, in die viele große Hoffnungen setzen, keine wesentlichen Veränderungen gebracht haben, Klimaverträge, Friedensverträge und so weiter. Und das hält man, als achtsamer Mensch, nur durch, indem man verdrängt, so gut es geht.
Pastor Henning Ernst:
Und dann ziehst du dich eben ins Private zurück. Rückzug. Das ist der erste Fallstrick auf dem Weg zu einer, wie ich es nenne, echten Hoffnung. Zuhause schauen wir dann Netflix oder so, auch die Jüngeren, die vorher noch bei FridaysForFuture unterwegs waren.
Dr. Ludger Iske:
Erschwerend hinzu kommt, dass sich eine Vereinzelung bemerkbar macht durch den Rückzug ins Private. Einsamkeit wird ein Thema, das sehe ich auch bei meinen Patienten, und das wirkt sich auf die Gesundheit aus.
Pastor Henning Ernst:
Das kenne ich als Pastor auch. Die Gemeinschaft der Gläubigen oder der Hoffenden zerfällt mit der Vereinzelung zusehends, das ist gefährlich. Ich merke das in meiner Arbeit und in der Gesellschaft. Die gemeinsame Mitte zerbröckelt, weil die gemeinsame Hoffnung zerfällt.
Dr. Ludger Iske:
Aber Hoffnung kann nicht vor der harten Realität zurückweichen. Hoffnung verdrängt die Angst nicht, sie ist nicht oberflächlich, sondern sie lässt der Angst den nötigen Raum. Dadurch bekommt die Hoffnung Würde und Tiefe.
Pastor Henning Ernst:
Das ist ganz im Sinne des biblischen Psalms: „Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde; du hast mein Haupt mit Öl gesalbt, mein Becher fließt über.“ Und das ist eine der Lektionen, mit denen wir die Männer konfrontieren in unserer Arbeit im Männerforum. Ich sage: „Das Leben ist hart. Und du bist nicht schuld. In meinem und in deinem Leben passieren Unglücke. Du brauchst dich nicht zu verkriechen oder andere zu beschuldigen.“
Dr. Ludger Iske:
Aber genau das passiert, man zeigt gegenseitig mit den Fingern aufeinander. Ein Freund-Feind-Denken gewinnt die Oberhand. Selbst an Universitäten werden Studierende, die anders glauben, anders denken, immer öfter zusammengeschrien - Geschrei statt Gespräch!
Pastor Henning Ernst:
Je komplexer die Probleme werden, desto schneller fühlt man sich entmutigt und beginnt zu polarisieren. Und das ist der zweite Fallstrick auf dem Weg zur Hoffnung, die pessimistische Haltung: Alles und alle sind bescheuert außer mir. Der Satz von Jesus „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein“ wird nicht mehr gehört. Die Steine fliegen sofort und die Konflikte eskalieren. Der dritte Fallstrick ist die „Ach, das wird schon!“ -Haltung. Kriege toben, Rassismus grassiert, Meere steigen und Wälder brennen, aber „ich schaue woanders hin“!
Dr. Ludger Iske:
Dazu fällt mir Eugen Roth ein: „Ein Mensch lebt noch mit letzter List in einer Welt, die nicht mehr ist./ Ein andrer, grad so unbeirrt, lebt schon in einer, die erst wird.“
Pastor Henning Ernst:
Das „unbeirrt“ gefällt mir! Die eher pessimistisch veranlagten Leute sind beirrt durch die unlösbar scheinenden Krisen. Die Leute aber, die die Probleme klein- und schönreden, sind unbeirrt und fliegen mit letzter List durch die Welt. Die einen werden irgendwann zynisch, die anderen oberflächlich und langweilig.
Dr. Ludger Iske:
Man kann von beiden Seiten vom Pferd herunterfallen. Egal ob du unbeirrt optimistisch oder pessimistisch auf das Leben schaust, es wird schwer, solidarisch zu handeln, aus tiefer Hoffnung heraus! Leider zahlen sich die Aufreger mit schlechten Nachrichten und auch die schönen Lifestyle News am besten aus: mehr Klinks und Tweets, mehr Watch Time, mehr Sendezeit! Auch hier kein Durchdenken und Abwägen, sondern Geschrei statt Gespräch.
Pastor Henning Ernst:
Eigentlich wollten wir über hoffnungsvolle Entwicklungen sprechen, aber wir landen so schnell immer wieder bei den Gefahren!?
Dr. Ludger Iske:
Für mich ist das eine ehrliche Suchbewegung nach hoffnungsvollen Spuren. Mein Hoffen wird eher geschult, wenn ich mir gefährliche Entwicklungen bewusst mache. Es ist mehr als bloßer Optimismus. Das, worauf ich hoffe, muss sich in der rauen Realität als tragfähig beweisen.
Pastor Henning Ernst:
Ja, es ist ein Kraftakt, inmitten all der Gefährdungen eine Hoffnungsspur zu erkennen. Das ist Arbeit. Martin Luther sagte: „Die Anfechtung macht den Christenmenschen.“
Pastor Henning Ernst:
Es geht um den Kraftakt, zu einer Hoffnung zu finden, die trägt. Ich muss in Kontakt mit mir selbst kommen, mit meinem Herzen und bereit sein, den unangenehmen Emotionen nicht aus dem Weg zu gehen. Daran arbeite ich immer wieder mit den Männern in meinen Gruppen. Es ist so einfach, auszuweichen vor schwierigen Auseinandersetzungen und Gefühlen. Aber es gibt Situationen, in denen du nicht ausweichen kannst!
Dr. Ludger Iske:
Und wenn ich mich einer Situation stelle, werde ich aktiv. Dadurch ergreife ich meine Freiheit zu handeln. Der Arzt und Therapeut Viktor Frankl hat über die Freiheit gesagt: „Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion. In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit.“
Pastor Henning Ernst:
Freiheit bedeutet da also, dass ich nicht sofort reagiere, sondern mir Zeit lasse?
Dr. Ludger Iske:
Du nimmst dir die Zeit, denn in deiner Reaktion liegt deine Freiheit. Ich sage mir, tritt erst mal einen Schritt zurück und überlege, was du sagst oder tust! So einen Raum der Freiheit sehe ich in der biblischen Geschichte von Jesus und der Ehebrecherin. Die Männer, die die Ehebrecherin vor Jesus geschleppt haben, fordern: Los, Jesus, was sagst du? Wie hältst du es mit dem Gesetz, dass auf Ehebruch Steinigung steht? Und Jesus? Sagt erst einmal nichts. Er nimmt sich die Freiheit, nicht sofort zu reagieren.
Pastor Ernst Henning:
In der Bibel steht das: Aber Jesus bückte sich nieder und schrieb mit dem Finger auf die Erde. Jesus ist so frei, dass er sich die Zeit nimmt. Er gibt damit auch den Umstehenden Zeit, mit ihren Steinen in der Hand einen Moment innezuhalten. Ich denke, es braucht ein Ritual, zum Beispiel ein Gebet, um sich selbst zu unterbrechen sozusagen. Das Ritual zwingt mich, einen Moment innezuhalten. Das stärkt meine Hoffnung darauf, dass es einen guten Ausgang für die Situation gibt. Weil ich dadurch nicht so leicht zum Getriebenen werde, sondern haushalten kann, ohne das Problem gleich lösen zu müssen.
Dr. Ludger Iske:
Wahrscheinlich braucht jeder von uns sein persönliches Ritual, eine eigene Methode, ein eigenes Gebet, um sich selbst zu bremsen. Jesus schreibt mit dem Finger auf die Erde. Ich denke an den Pastor der Schwarzen Gemeinde in Charleston. Nachdem am Vormittag ein irre geleiteter junger Weißer mehrere Schwarze Schülerinnen in der Kirche erschossen hatte, stellte er sich abends vor die Kameras und erklärte:
"We still believe in the power of prayer to change. Not them but us." Wir glauben weiter an die Kraft des Gebets, das verändert. Nicht sie, aber uns.
Pastor Ernst Henning:
Was für eine große Kraft, innezuhalten und sich auf das zu besinnen, was denen hilft, die angegriffen wurden. Das Beten war für mich wie Schwimmen-lernen. Wenn mir das Wasser bis zum Hals steht, kann ich mich in solchen Situationen darauf stützen. Ich bete zu Gott, übergebe aber nicht meine Verantwortung an Gott oder andere. Ich bin im Gespräch mit Gott eher so wie in einer Freundschaft oder Liebesbeziehung. Wir brauchen und helfen uns gegenseitig. Das Gespräch mit Gott gibt mir Hoffnung, weil ich nicht verstumme und still vor mich hin leide, sondern weil ich mich äußern kann, fluchen, klagen, fragen.
Dr. Ludger Iske:
Das haben wahrscheinlich schon viele Menschen vor dir ganz ähnlich empfunden: Im Gebet ist Gott anwesend. Jehuda Amichai, der in Würzburg 1924 geborene israelische Dichter, schreibt:
Ich sag in vollem Glauben:
Die Gebete waren schon vor Gott da.
Die Gebete schufen Gott
und Gott schuf den Menschen
und der Mensch schafft Gebete
und die erschaffen Gott und der erschafft den Menschen.
Pastor Ernst Henning:
Das gefällt mir, weil es das Hin und Her zwischen Gott und Mensch ausdrückt, das Ineinander und Miteinander. So erlebe ich das beim Beten auch. Meine Vorstellung von Gott hat sich da verändert. Nicht mehr nur der allmächtige Gott, der direkt eingreift und alles regelt. Aber doch Gott, der in allem wirkt, auch in mir und ich in Gott. Wenn ich bete, ändert das nicht gleich die ganze Welt. Aber es ändert mich.
Dr. Ludger Iske:
Deshalb ist mir der Schwarze Pastor in Charleston so nahe, der in diesem Sturm der Anfechtung stehen bleibt und es aushält, an seinem Glauben festhält, betet und hofft.
Pastor Ernst Henning:
Ja, und daran lässt sich zeigen, was entscheidend ist für tiefe Hoffnung. Erstens, in Kontakt mit den eigenen Gefühlen zu kommen, Angst, Verlust, Schmerz, Einsamkeit, ungestillte Bedürfnisse. Zweitens, dafür Worte zu finden, um sich mitzuteilen.
Und drittens, andere Menschen zu finden, denen man sich anvertrauen kann und zu denen man sich zugehörig fühlt. Viertens: loslassen von liebgewordenen Vorstellungen, die mich aber auch irgendwie gefangen halten und die Auseinandersetzung mit meinen Gefühlen wie Trauer unterdrücken.
Und das Gebet, das Beten-können und Innehalten-können ist eine große Möglichkeit und Übung, besonders in schwierigen Situationen nicht den Kopf zu verlieren und hoffnungsvoll zu bleiben. Und wenn ich dann voller Hoffnung bin, kann ich mich ins Zeug legen, mich für eine gute Sache engagieren, weil es sinnvoll ist, auch wenn der Erfolg auf sich warten lässt.
Amen.
Es gilt das gesprochene Wort.
Radiopastorin Susanne Richter
Ev. Rundfunkreferat der norddeutschen Kirchen e.V.
Wolffsonweg 4
22297 Hamburg
Telefon: 040 51 48 09-19
Mobil: 0177 467 49 26
E-Mail richter@err.de