Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier forderte kürzlich einen "neuen Patriotismus". Auch in den Bundesländern, die im September Landtagswahlen abhalten, ist Patriotismus ein Wahlkampfthema.
Dürfen Christinnen und Christen Patrioten sein? Oder sollten sie es sogar? Und wie wären Patriotismus und christlicher Glaube miteinander vereinbar? Das ist das Thema in diesem Gottesdienst aus der Evangelischen St. Ansgarii-Kirche in Bremen.
Die Predigt hält Pastor Benedikt Rogge. Musikalisch gestalten den Gottesdienst Kantor Kai Niko Henke und das Alsfelder Vokalensemble unter der Leitung von Johannes Liedbergius.
Lieder des Gottesdienstes:
1. Großer Gott, wir loben Dich: EG 331, Strophen 1-2, 11
2. Tut mir auf die schöne Pforte: EG 166, Strophen 1-4
3. Wenn Glaube bei uns einzieht, Strophen 1-2
4. Wenn Glaube bei uns einzieht, Strophe 3
5. Gott gab uns Atem, damit wir leben: EG 432
Predigt zum Nachlesen:
I
"Doch sollte Gott wirklich auf der Erde wohnen?" Was für ein Satz zur Einweihung eines Tempels! Das müssen wir uns ausmalen: Wie der weise König Salomo da steht, vor der ganzen, versammelten Gemeinde Israel – Hunderte und Tausende von Menschen. Der große Moment der Einweihung des Tempels ist gekommen. Über Jahre hinweg hat Salomo ihn bauen lassen; hat weder Kosten noch Mühen gescheut, um den Auftrag seines Vaters David zu erfüllen. All das, wie er selbst sagt, "dir, Gott, zur Wohnung, eine Stätte, dass du ewiglich da wohnest".
Aber dann? Dann demonstriert Salomo seine ganze Weisheit, indem er im entscheidenden Augenblick stutzig wird. "Doch sollte Gott wirklich auf der Erde wohnen?", fragt er.
Und die erste Antwort auf seine Frage lautet: "Nein, lieber Salomo – natürlich wohnt Gott nicht auf der Erde." Nicht im Sinne eines festen Wohnsitzes, nicht so, dass er eine bestimmte Adresse hätte – Tempelhof 40 – oder eine Postleitzahl. Das wäre ein grotesk kleinliches Bild von Gott.
Und doch sind wir Menschen ja Spezialisten darin, kleinliche Bilder von Gott und von Jesus Christus zu zeichnen. Ich muss an einen Vorgänger von mir in dieser Gemeinde, Pastor Julius Bode, denken. Er war vor hundert Jahren in der Weimarer Republik Ab-geordneter der antisemitischen Deutschnationalen Volkspartei. Wenn er unsere wunderschöne, holzgeschnitzte Kanzel erklomm, trug er manchmal einen Stahlhelm auf dem Kopf – und predigte Sätze wie diese. Ich zitiere:
"Jesus ist ein Held. Bei ihm ist alles nur Kampfbereitschaft und Siegeswille wie bei unseren germanischen Vätern. Es ist eine starke, deutsche Seele, die in Jesus lebt."
Unfassbar, nicht wahr?
Jesus Christus lebte in Israel und Palästina, soll aber eine "starke, deutsche Seele" gehabt haben. Das klingt nach Komödiantentum, war aber ernstgemeint. In den Ge-danken Julius Bodes steckt nämlich die Idee, dass Gott hier bei uns ist – bei uns Deutschen – und nur bei uns, bei keinem anderen.
Und diese Idee ist leider kein Schnee von gestern. Denn der Satz "Gott mit uns" ist hierzulande zum Mode-Accessoire rechtsextremer Kreise geworden. Auf Aufklebern, Flecktarn-T-Shirts, Jacken und Flaggen findet sich der Satz, über einem Adler und einem Tatzenkreuz, das an ein Eisernes Kreuz erinnert. Alles gleich im Online-Shop bestellbar, die Joggingshort "Gott mit uns" für 19 Euro 90. "Gott mit uns" – dieser Satz war schon falsch, als er noch auf den Gürtelschnallen deutscher Soldaten in den Welt-kriegen prangte.
Denn "selbst die unendliche Weite des Himmels kann Gott nicht fassen!", wie Salomo sagt. Keine Gruppe, kein Volk und kein Land darf Gott für sich vereinnahmen; auch nicht das sogenannte "christliche Abendland". Gott ist nie nur "mit mir" oder "mit uns", sondern immer auch "mit dir" und "mit euch".
Mein Heimatland zu lieben und zugleich den Satz: "Gott mit uns" im Munde zu führen, das wäre kein Patriotismus, sondern Nationalismus. Der ist mit unserem christlichen Glauben nicht vereinbar. Denn Gott ist unendliche Male grenzenloser als der Horizont.
II
"Sollte Gott wirklich auf der Erde wohnen?", fragt König Salomo bei der Einweihung des Tempels. Natürlich nicht, war die erste Antwort. Allerdings lautet die zweite Antwort: "Ja, lieber Salomo – natürlich wohnt Gott auf der Erde." Und zwar: In uns allen! Sein Wohnsitz ist in jedem von uns – "weil der Himmel bei uns wohnt". Und weil das so ist, haben alle Menschen, die glauben, eine gemeinsame Heimat.
Der Apostel Paulus fasst das in einprägsame Worte. Er schreibt in einem seiner Briefe über die, die glauben: "Unser Staat befindet sich im Himmel." (Philipper 3,20) Oder, wie Martin Luther übersetzt hat: "Wir sind Bürger im Himmel."
Weil Gott uns nicht fern ist, sondern nah. Wenn ich den Satz "Wir sind Bürger im Himmel" ernstnehme, dann haben wir Christen sozusagen eine doppelte Staatsbürgerschaft. Einerseits haben wir ein sehr irdisches, konkretes Zuhause: Wir sind Schwachhauser, Bremerinnen, Deutsche. Wir kennen die Menschen in unserer Straße, in unserer Nachbarschaft, in unserem Stadtteil. Wir sprechen dieselbe Sprache wie unsere Landsleute, teilen eine Geschichte und in vielerlei Hinsicht auch Natur und Kultur.
Aber die andere Bürgerschaft haben wir Christen von unserem ersten und wichtigsten Zuhause her.
1934 haben einige evangelische Christen sich gewehrt gegen den totalen Anspruch, mit dem die Nazis alle Bereiche des Lebens in Deutschland beherrschen wollten. Eine Gruppe innerhalb der evangelischen Kirche, die sogenannte "Bekennende Kirche" formulierte die Barmer Theologische Erklärung. In der heißt es:
"Wir verwerfen die falsche Lehre, als gebe es Bereiche unseres Lebens, in denen wir nicht Jesus Christus, sondern anderen Herren zu eigen wären." Die Barmer Erklärung feiert in diesem Jahr ihr 90-jähriges Bestehen und ist nach wie vor aktuell. Sie ist Bekenntnisgrundlage vieler evangelischer Landeskirchen.
Die Barmer Erklärung ruft dazu auf, die richtigen Prioritäten zu setzen – die Adresse unseres ersten Zuhauses zu kennen: Die ist bei Gott. Unser Glaube ist wichtiger als jede andere Weltanschauung oder Staatszugehörigkeit, wichtiger als jedes Hobby oder kulturelles Interesse. Weil Gott uns unbedingt angeht. Weil unser Glaube an ihn unsere Selbstbilder prägt. Weil er uns Wege aufzeigt, wie wir handeln sollen. Weil Gott das Fundament unseres Lebens ist, von der Geburt bis zum Grab.
Christen sind deshalb nie nur Deutsche oder Französinnen, Ukrainer, Iranerinnen oder Nigerianer. Sie sind auch nie nur Bremerinnen, Bayern, Berliner, Brandenburgerinnen oder Westfalen. Wir sind immer und an erster Stelle: "Bürger des Himmels" und dadurch mit allen anderen verbunden. Diese Heimat teilen wir.
Der Theologe und Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer wanderte 1939 in die USA aus. Aber obwohl er wusste, dass er damit sein Leben riskiert, kehrt er schon nach wenigen Wochen nach Deutschland zurück. In einem Brief schreibt er:
"Diese schwierige Epoche unserer nationalen Geschichte muss ich bei den Christenmenschen Deutschlands durchleben. […] Die Christen in Deutschland werden vor der furchtbaren Alternative stehen, entweder die Niederlage ihrer Nation zu wollen, damit die christliche Zivilisation überlebe, oder den Sieg ihrer Nation zu wollen und damit unsere christliche Zivilisation zu zerstören. Ich weiß, welches von beidem ich wählen muss."
Für mich war Dietrich Bonhoeffer ein Patriot; aber einer, der die Prioritäten nicht verwechselte.
III
"Dürfen, ja: sollen Christen Patrioten sein?" Manche Christen und auch manche Politiker machen in Deutschland gegenwärtig die Idee eines "patriotischen Christentums" stark.
In den meisten Fällen verbirgt sich hinter dieser Wortkombination jedoch eine völkische Ideologie – und damit eine kategorische Ablehnung und Abwertung ganzer Menschengruppen. Das ist mit dem christlichen Glauben, der die Nächstenliebe und Feindesliebe predigt, nicht vereinbar.
Der Glaube an Jesus Christus bleibt nie bei sich; er ist kein erweiterter Egoismus und auch kein Glasperlenspiel, bei dem man sich nur um sich selber dreht. Der Glaube an Christus drängt zum Einsatz für andere. "Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist", schrieb Dietrich Bonhoeffer. "Sie muss an den weltlichen Aufgaben des menschlichen Gemeinschaftslebens teilnehmen, nicht herrschend, sondern helfend und dienend." Jesus Christus war kein herrschender Held. Er war wahrer Mensch und wahrer Gott zugleich. Einer, der zu den Schwachen und Hilfsbedürftigen ging. Um sie aufzurichten und zu stärken. Ihm folge ich nach.
Sollen Christen sich also ihrem Land verbunden fühlen? Ja, natürlich. Mit den Alteingesessenen und den Dazugekommenen, mit den Starken und den Schwachen, mit Christen und Nichtchristen. Wir leben ja mitten in dieser Welt. Wir wollen Verantwortung für sie übernehmen. Und wer das "Liebe zum Heimatland" nennt, soll das unbedingt tun. Und wir haben auch so viele Gründe, dankbar zu sein, für die Bedingungen, unter denen wir in Deutschland leben. Reich sind wir im Wortsinne und beschenkt mit so vielem in unserer Heimat.
Christen leben aber keinen Hurra-Patriotismus: Für Triumphgeschrei und Überhebung über andere Nationen und Völker ist bei uns kein Platz. "Kehrt um!" Diese Aufforderung Jesu ist ein Fundament christlichen Glaubens. "Kehrt um – und denkt um – und denkt immer auch selbstkritisch über Euch nach", bedeutet das. Als Einzelne wie auch als Kollektiv. In unserem Land betrifft das für alle Zeiten ganz besonders die Ära, in der Deutsche unendliches Leid über viele Menschen, über Völker und Länder gebracht haben. Wir in Deutschland lebende Christen dürfen uns nicht den Versuchungen irgendeines Geschichtsrevisionismus hingeben. Christlicher Glaube lehrt, mit den eigenen Fehlern und der eigenen Schuld sowie mit den Fehlern und der Schuld der Vorfahren zu leben – dank der Vergebung und Annahme durch Gott. Erinnerung gehört zu unserer Identität als Christen und als Deutsche.
"Sollte Gott wirklich auf der Erde wohnen?", fragt in der Bibel König Salomo und gibt sich selbst die Antwort:
"Selbst die unendliche Weite des Himmels kann dich, Gott, nicht fassen! Wie könnte es dann der Tempel, den ich gebaut habe?" – Wie könnte es ein einzelnes Volk oder eine einzelne Nation?
Und wie endet Salomo? Mit einem Gebet: "Herr, mein Gott, wende dich deinem Knecht zu, höre sein Gebet und sein Flehen!"
Amen.
Es gilt das gesprochene Wort.