Näher, als wir dachten
Pfarrer Stefan Claaß
12.03.2011 21:30

Ich war bis vorhin mit einer Gruppe von jungen Leuten zwischen 16 und 26 Jahren unterwegs. Heute Morgen haben wir uns vor dem Fernseher im Freizeitheim getroffen und die Nachrichten aus Japan verfolgt. Wir haben die gigantische Flutwelle gesehen, die Häuser und Autos und Züge mit sich gerissen hat. Und wohl Hunderte von Menschen verschlungen hat. Zuerst war es total still im Zimmer, dann kamen die verschiedensten Kommentare: „krass“ oder „wie elend“.

Ich war froh, dass ich nicht allein vor dem Fernseher saß, gemeinsam war der Schrecken eher  zu ertragen.

 

Als der Moderator von 1000 Toten sprach, traute sich ein Mädchen zu sagen: „Es klingt vielleicht herzlos, aber ich bin nicht mal wirklich traurig. Das kann ich mir einfach nicht vorstellen.“

 

Kurz danach Bilder einer alten  Frau, die durch das Chaos irrt. Und einer antwortet: „Das macht mich traurig!“ Und eine Studentin erzählte von ihrer Zimmernachbarin, deren Familie in Japan lebt. „Wie soll ich der am Montag begegnen? Hallo, wie geht´s? Ich hab keine Ahnung!“ 

 

Nach und nach sind wir von Zuschauern zu etwas anderem geworden. Die Katastrophe auf der anderen Seite der Erdkugel rückte uns immer näher. Wir konnten über die Angst vorm Verschüttet werden erzählen und davor, die ganze Familie zu verlieren. „Vermisst finde ich schlimmer als tot“, meinte ein Junge, „da hätte ich noch viel schrecklichere Fantasien im Kopf.“

 

Kurz danach kam die Eilmeldung, im Kernkraftwerk Fukushima drohe eine Kernschmelze. Jede und jeder hatte eine andere Idee, was er in einem solchen Fall machen würde, wenn das hier passierte: Fliehen, mit der Freundin schlafen, beten, ein Glas Rotwein auf dem Balkon trinken. Sehr unterschiedliche Ideen.

 

Aber dann kam etwas, was alle wütend machte. Ein Experte schilderte kühl, dass uns in Deutschland keine Gefahr aus Fukushima drohe. Wie er das gesagt hat, haben wir alle als zynisch empfunden. Und als der Moderator dann noch für die gute Nachricht dankte, war es ganz aus. „Wie kann man so kalt sein“, kommentierte einer, „Japan ist doch nur kilometermäßig weit weg.“

 

Nur kilometermäßig weit weg. Ich musste an die Predigt denken, die der Apostel Paulus einst in Athen gehalten hat. „Gott hat die Menschen gemacht, damit sie auf dem ganzen Erdboden wohnen. Und er ist jedem von uns ganz nahe.“

 

Ich will mich Paulus anschließen und Gott um spürbare Nähe bitten. Wenn Ihnen das Beten fremd ist: haben Sie ein weites Herz. Und wenn Sie können, beten Sie mit mir:

 

Gott im Himmel und auf Erden, der Boden unter unseren Füßen und unsere Herzen sind brüchig. Die Menschen in Japan und ihrer Nachbarschaft legen wir dir zuerst ans Herz. Hilf uns, ihnen nahe zu sein in Gedanken und im Helfen. 

 

Gib uns einen kritischen Geist, wenn wir auf unsere technischen Möglichkeiten schauen. Und gib uns einen selbstkritischen Geist, wenn wir auf unseren Lebensstil schauen.

 

Amen.

 

Ich hoffe, dass wir Wege finden, den scheinbar Fernen als Menschen beizustehen

Sendeort und Mitwirkende

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