Das Wort zum Sonntag: "Das gesprochene Wort"
Pastorin Nora Steen
04.02.2012 21:10

Am vergangenen Dienstag im Flughafen Hannover. Mit Blumensträußen in den Händen stehen sie im Blitzlichtgewitter und schauen schüchtern in die vielen Kameras. Ein kleiner Chor singt. Großer Bahnhof für einfache Leute. Einer, der neben mir steht um seine Frau abzuholen, fragt mich hinter vorgehaltener Hand: „Sind diese Leute da irgendwie besonders?“ Ich muss lachen. Ohne es zu wissen, hat er es auf den Punkt gebracht: Ja, die da im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen, sind wirklich ganz besondere Menschen und zugleich sind sie eine ganz normale Familie. Esther und Andre Nguyen und ihre Eltern. Vor 3 Monaten wurden sie aus Niedersachsen nach Vietnam abgeschoben. Nun durften sie nach Deutschland zurückkehren. Es war das erste Mal, dass das passiert ist. Aus humanitären Gründen, heißt es.

Viele haben in den vergangenen Monaten für die Rückkehr der Familie Nguyen gekämpft. Allen voran die evangelische Kirchengemeinde in Hoya im Landkreis Nienburg. Die Familie gilt als sehr gut integriert und nahm bis zur Abschiebung aktiv am Leben in der Kleinstadt teil. Zwei der Kinder sind hier geboren und alle sprechen gut deutsch. Viele konnten nicht verstehen, wieso gerade sie nicht bleiben dürfen. Sie fragten: Muss es nicht auch so etwas wie Gnade geben, wenn über das Schicksal von ganzen Familien entschieden wird?

Rechtlich war die Abschiebung einwandfrei. Aber reicht das?

Am Fall der Familie Nguyen scheint auf einmal eine ganz andere Perspektive durch: Es gibt Situationen, in denen es einfach nicht ausreicht, nur den Buchstaben des Gesetzes zu folgen. Wenn nämlich vergessen wird, dass das Gesetz dem Leben dienen soll und nicht umgekehrt, dann werden aus Paragraphen lebensverhindernde Formeln. Dann werden Menschen abgeschoben, die so sehr ein Teil unserer Gesellschaft geworden sind, dass eine ganze Stadt für ihre Rückkehr kämpft. Dieser Teufelskreis wurde am Dienstag wenigstens an einer Stelle durchbrochen. Die Bilder sprechen für sich.

Die Geschichte der Familie Nguyen zeigt mir: Was richtig oder falsch ist, kann man nicht nur allein den Gesetzen entnehmen. Manchmal verkehrt sich Recht in Unrecht. Ohne Gnade  können wir keine menschliche Gesellschaft sein. Schon für Jesus damals war das immer wieder ein Thema: Zum Beispiel, als er am Sabbat eine kranke Frau geheilt hat. Da wurde ihm vorgeworfen, dass er das Gesetz missachte, weil man am Sabbat nicht arbeiten darf. Jesus entgegnete: „Der Sabbat ist für den Menschen da, nicht der Mensch für den Sabbat.“ In unserer heutigen Sprache heißt das: Nicht alles was rechtlich einwandfrei ist, ist auch richtig.

Familie Nguyen ist wieder da. Weil viele dafür gekämpft haben, dass Gnade vor Recht ergeht. Sie haben gewonnen. Ich finde die große Hoffnungskraft, die in dieser Rückkehrgeschichte steckt, einfach überwältigend. Weil sie mir zeigt: Was Jesus uns vorgelebt hat, ist heute auch noch aktuell. Ich wünsche mir, dass das kein Einzelfall bleibt.

Ein Polizist, mit dem ich mich in Terminal A im Flughafen Hannover unterhalten habe, hat die Worte Jesu vom Sabbat ganz schlicht und einfach ins Heute übersetzt: „Ich finde es gut, dass sie wieder da sind. Hier geht es einfach um Menschlichkeit. Egal, was im Gesetz steht.“
 

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(NDR)
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