Das Wort zum Sonntag: "Maßstäbe menschlich"
Pfarrer Michael Broch
19.02.2012 22:10

Er hat mich nicht überrascht, aber doch beschäftigt: der Rücktritt von Christian Wulff als Bundespräsident. Beschäftigt hat mich seine Belastung als Mensch und die Belastbarkeit dieses Amtes. Urteile und Verurteilungen im Vorfeld und rund um diesen Schritt gab es mehr als genug.

 

Information, Aufklärung und Kritik durch die Medien sind notwendig in einer lebendigen Demokratie. Das darf auch vor dem Bundespräsidenten nicht Halt machen. Doch gelegentlich hatte ich den Eindruck, dass die Grenze zwischen dem hohen Gut “Pressefreiheit” und “zur Jagd blasen” – fließend waren.

 

Dazu kommen mögliche Fehler eines Politikers, die nur er selbst wissen kann. Aber zunächst gilt für jeden und jede die Unschuldsvermutung.

 

Unsere Gesellschaft ist in vielerlei Hinsicht nicht makellos, kein Mensch ist das. Wieviel Makellosigkeit verlangen wir von jemandem, der im politischen Geschäft ganz oben ist? Schafft das nur ein besonders begnadeter Asket?

 

Ohne Zweifel und mit Recht verlangen wir von unseren politisch Verantwortlichen, dass sie zwar nicht makellos sein müssen, aber integer und vertrauenswürdig. Und darum verdient der Rücktritt von Christian Wulff Respekt. Weil er damit auch dem gerecht werden wollte, was er als sein Hauptanliegen als Bundespräsident benannt hatte: den “Zusammenhalt der Gesellschaft”.

 

Dieser Zusammenhalt hat auch mit “Vorbildern” zu tun. Und das ist leichter gesagt und schneller gefordert als getan. Ich fühle mich da auch persönlich herausgefordert. Denn auch ich trage durch das, was ich tue oder lasse dazu bei, was in unserer Gesellschaft als normal gilt: befriedige ich egoistisch alle möglichen Bedürfnisse oder verzichte ich ganz bewusst auf so manchen Vorteil.

 

Je herausgehobener jemand auf der politischen Bühne ist, desto größer und häufiger sind auch die Gefährdungen. Ich glaube, es braucht viel innere Kraft, um nicht den Verlockungen zu erliegen, die sich aus Macht, Einfluß und Prominenz ergeben. Das kann zu vermeintlichen Selbstverständlichkeiten führen. Aber vermeintliche Selbstverständlichkeiten gibt es  nicht nur bei politisch Verantwortlichen.

 

Die gibt es auch bei uns ganz normalen Bürgern. Ich denke an die kleinen Schummeleien im Alltag – die halt keiner sieht, die meistens verborgen und unerkannt bleiben. Gebe ich bei der Lohn- und Einkommenssteuer alles genau an? Hilfst du mir, die Wohnung zu renovieren? “Schwarz” - versteht sich. Gebe ich das Geld, das mir an der Supermarktkasse zuviel rausgegeben wurde, zurück?

 

Ich glaube, jeder muss sich immer wieder fragen, ob die Maßstäbe, die er an andere anlegt, auch von ihm selbst gelebt werden. Maßstäbe wie Ehrlichkeit, Genauigkeit oder der Verzicht auf Vorteile. Im Großen wie im Kleinen. – Damit der “Zusammenhalt unserer Gesellschaft” gelingen kann. Und dieser gelingt nur, wenn wir die Maßstäbe mit Menschlichkeit  verbinden, wenn wir menschlich miteinander umgehen. Auch und gerade denen gegenüber, die Fehler gemacht haben oder die gescheitert sind -und sie nicht auf ihre Fehler oder auf ihr Scheitern reduzieren.

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