Das Wort zum Sonntag: "Du hast die Wahl!"
Pfarrer Stefan Claaß
05.05.2012 21:50

Morgen ist es wieder so weit. Morgen wird die Quittung für die letzten Jahre ausgestellt. Morgen werden die Karten neu gemischt für die kommende Zeit. Morgen wird gewählt. Um 18 Uhr bekommen wir die ersten Trendmeldungen aus  Schleswig-Holstein und Thüringen, später am Abend auch aus Frankreich und Griechenland. Diese Wahlen sind alles andere als weit weg. Die Spannung überträgt sich, und ich merke, wie eng wir mittlerweile in Europa zusammenhängen.  

 

Wonach entscheiden Sie eigentlich, wem Sie Macht anvertrauen? Prüfen Sie die lange Liste der Sachfragen und entscheiden dann? Oder trauen Sie lieber dem Eindruck, den Sie von Kandidatinnen und Kandidaten gewonnen haben? Vieles lässt sich gegeneinander abwägen. Nur bei einem bin ich mir sicher: Ich wähle niemanden, der fehlerlos und strahlend erscheint oder erscheinen will. Ich habe andere Kriterien.

 

Meine Erwartungen haben mit einer Geschichte zu tun, die sich auch ganz gut als Krimi oder als Spätfilm eignen würde. Eine Geschichte, in der Gott scheinbar falsch gewählt hat. Ein junger Mann bekommt die Chance, politischen Einfluss zu gewinnen. Er steigt auf am Hof des Königs, bis dieser eifersüchtig wird. Nach langen Kämpfen hin und her wird der junge Mann selbst König. Er hat das Zentrum der Macht erreicht. Eines Abends sieht er im Nachbarhaus eine äußerst attraktive Frau. Leider ist sie anderweitig verheiratet. Er intrigiert, um ihren Mann loszuwerden, und schläft mit ihr. David, so heißt der König, hat sein Ziel erreicht.

 

Aber da tritt der Prophet Nathan als sein Gegenspieler auf. Er konfrontiert ihn frontal mit seinem Machtmissbrauch. König hin oder her. Und David? Er leugnet nicht und schiebt es nicht auf die Umstände. Er gesteht geradeheraus: Ich bekenne mich schuldig vor Gott! Hat Gott also mit diesem David die falsche Wahl getroffen?

 

Auf das ehrliche und uneingeschränkte Schuldeingeständnis hin gibt Gott David die Chance, ein großer König für Israel zu werden. Einer, der bewusst mit seiner Macht umgeht, weil er weiß, wie verführerisch sie ist. Drei Verhaltensweisen finde ich bei David, die ich auch heutzutage gerne bei Menschen wiederfinden würde, die für öffentliche Ämter kandidieren. David lässt sich von Nathan schonungslos kritisieren. Zweitens macht er keinen Versuch, seine Tat zu vertuschen, sondern gesteht sie ein. Ohne Wenn und Aber.  Und drittens vertraut er seinen kleinen Sohn ausgerechnet diesem Nathan zur Erziehung an. Das finde ich stark!

 

Das Verhalten der Kandidaten ist bei Wahlen nur die eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite gehören die dazu, die wählen gehen. Und da denke ich an den Unterschied zwischen Zivilisation und Kultur. Zivilisation ist, wenn jeder eine Badewanne hat. Und Kultur ist, wenn man sie auch benutzt. Genauso verhält es sich mit dem Wahlrecht. Es reicht nicht, alle paar Jahre ein Kreuzchen zu machen. Wenn eine demokratische Kultur daraus werden soll, dann müssen wir uns auch darum kümmern, die prophetische Aufgabe wahrzunehmen wie Nathan. Zum Wahlrecht gehört auch die Verantwortung, dass wir uns informieren und alle Machtausübung kritisch begleiten.  

 

Am Vorabend der vielen Wahlen wünsche ich Ihnen und mir, dass Machthabende und Kritiker mit Gottes Hilfe aufeinander hören – so wie David und Nathan.

 

Einen gesegneten Sonntag: in Kiel und Weimar, in Paris und Athen. Und bei Ihnen.

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