Das Wort zum Sonntag: "Die leere Obstschale"
Pfarrer Dr. Wolfgang Beck
29.12.2012 22:40

Eine leere Schale, von einer leeren Obstschale berichtete vor einiger Zeit der Leiter eines Kindergartens in unserem Stadtteil. Er erzählte von der Obstschale in seinem Kindergarten und davon, dass sie an zwei Tagen immer auffallend schnell leer ist.

 

Ich weiß natürlich, dass es nicht ganz einfach ist, Kinder für frisches Obst zu begeistern. Und so dachte ich: alle Achtung, wie schafft man es denn, Kinder für gesunde Ernährung zu begeistern?! Doch gerade der Hinweis, dass die Schale gerade an zwei Tagen besonders schnell leer ist, ließ mich zugleich auch stutzen. Der Hinweis auf die zwei besonders vitaminreichen Wochentage hat einen ganz und gar nicht lustigen Hintergrund. Denn es handelt sich um den Freitag und den Montag, zwei Tage an denen Kinder sich besonders für das Obst des Kindergartens interessieren:

 

Freitags gibt es viele Kinder, die sich reichlich an den Äpfeln bedienen, bevor sie ins Wochenende starten. Und auch am Montagmorgen ist die Schale ein richtig beliebter Anlaufpunkt. Denn es gibt eine Reihe von Kindern, die mit leerem Magen aus dem Wochenende zurück in den Kindergarten kommen. Die leere Obstschale ist deshalb natürlich kein Zeichen dafür, dass die Kinder sich nun gerne gesund und mit vielen Vitaminen ernähren. Die begehrte Obstschale am Freitag und am Montag ist nichts anderes, als die Klage der Kinder, die am Wochenende in ihren Familien nicht ausreichend versorgt sind! Klar, da steckt sich manches Kind gerne am Freitagmittag noch mal ein bisschen Obst in die Jackentasche und greift auch am Montag mit beiden Händen zu.

 

Mir ist diese Geschichte des Erziehers sehr in Erinnerung geblieben. Als Pfarrer bin in Hannover-Linden tätig, einem Stadtteil, in dem es viele soziale Probleme gibt. Und es gibt da viele Kinder, die zuhause nicht unbedingt gut versorgt werden. Die Erzählung von der leeren Obstschale hat sich mir deshalb eingebrannt. Denn sie zeigt anschaulich, was sich hinter mancher Statistik verbirgt, die dann auch noch schöngeredet wird.

 

So weist der Paritätische Wohlfahrtsverband darauf hin, dass mittlerweile jeder sechste Bürger in unserem Land armutsgefährdet ist. Das sind in Deutschland immerhin 12 Millionen Menschen. Klar, das ist nur so eine Zahl, die ich vielleicht heute höre und morgen schon wieder vergessen habe. Und ihre Thematisierung kommt sowieso vielen nicht so wirklich gelegen, wenn man sich doch lieber in der Darstellung eines wirtschaftlich so erfolgreichen Landes sonnt. Da passt ein Armutsbericht mit skandalösen Zahlen nicht recht ins Bild und ist vielleicht auch schnell wieder vergessen. Das geht mir auch so. Was ich aber nicht mehr vergessen konnte, das ist die Erzählung von der leeren Obstschale im Kindergarten, an den zwei Tagen: freitags und montags.

 

Wer immer in diesen Wochen von wirtschaftlichem Erfolg redet, wer meint, mit Stolz auf die starke Position unsere Landes im zurückliegenden Jahr schauen zu können, der denke einfach an zwei Dinge: an zwölf Millionen Menschen, die hier direkt armutsgefährdet sind, und an die leere Obstschale – freitags und montags.

Sendeort und Mitwirkende

Kath. Rundfunkreferat NDR

Andreas Herzig
Danziger Str. 52 a, 20099 Hamburg,
Fax 040/24877-119