Thomaskirche Kempen
Sehnsuchtsorte
Gottesdienst aus der Thomaskirche in Kempen
08.11.2015 09:05

Liebe Gemeinde,

 

Germany, Deutschland, haben die jungen Männer geantwortet, als die Reporter fragten, „Wo wollen Sie hin?“ Man sah ihnen die Strapazen an, die sie auf ihrer langen Flucht aus Syrien durchmachen mussten; aber sie lächelten dabei.

Germany, rief der Vater, der sein Kind in den Armen hielt und unbeirrbar einen Fuß vor den anderen setze. Beinahe wäre er gestolpert, weil er selbst zu erschöpft war.

 

Germany, sagten die drei Frauen, deren Männern zu Soldaten gemacht wurden, und die längst tot waren. Ihr Blick war müde, es lag eine Härte auf ihren Gesichtern, als sei alle Hoffnung längst aufgebraucht. Aber das eine Wort sprachen sie entschlossen aus: Germany. Deutschland.

 

Es muss doch einen Ort für Flüchtlinge geben, einen Ort von dem Menschen nicht mehr verjagt und weitergeschoben werden. Einen Schutzraum, an dem die Erschöpften zur Ruhe kommen können, wo sie wieder Vertrauen fassen, wieder Hoffnung haben auf eine Zukunft.

 

Wer gibt ihnen eine faire Chance zu überleben? Unser Land, Deutschland, ist zu einem Sehnsuchtsort geworden. Zu einem Fluchtpunkt, der hunderttausende aufbrechen lässt und hoffen. Sie suchen Ruhe und Frieden bei uns, wollen aufatmen, nach dem Alptraum den sie erlebt haben. Viele in Deutschland sind bewegt, gerührt, wenn sie solche Szenen in den Nachrichten sehen.

12-jährige, die mutterseelenallein unterwegs sind, zweitausend Kilometer fort von einem Zuhause das zerbombt und verbrannt wurde. Kulturschätze, die vor laufenden Kameras für immer vernichtet werden. Das muss doch aufhören.

Manche haben spontan den Beschluss gefasst, irgendwas zu tun. Ein Zeichen des Mitgefühls zu setzen. Man kann sie doch nicht abweisen. Was können wir machen? Brauchen die Leute irgendetwas, das wir im Keller haben? Kann ich bei einem Sprachkurs helfen, oder bei Behördengängen? So Fragen Bürgerinnen und Bürger in Kempen, aber auch in allen anderen Städten. Sie können und wollen nicht einfach nur zuschauen.

In den vergangenen Monaten haben wir eine Woge des Willkommens erlebt. Dazwischen schlichen sich wieder Zweifel ein. Werden wir das schaffen? Wird es zu viel sein? Wann sind die Möglichkeiten der Aufnahme erschöpft? Deutschland ist nicht das gelobte Land, das wissen wir. Unsere eigenen Lasten und Widersprüche kennen wir nur zu gut. Aber es macht und Verlegen, beschämt uns fast, dass so viele Männer, Frauen und Kinder, aus Syrien, dem Irak oder Nigeria, so große Hoffnungen in unsere Land und seine Bevölkerung setzen. Sie sagen: zeigt uns den Ort, an dem wir wieder an unsere Würde glauben können. Zeigt uns, wo man uns als Menschen annimmt. Wir sind in eine verzweifelte Notlage geraten. Zeigt uns, wo werden wir einmal nicht bloß nach dem wirtschaftlichen Nutzen gemessen.

 

Diese Sehnsucht kennt auch die Bibel gut. Sie ist kurz und knapp in 3 Worte zusammengefasst. Dein Reich komme. In dieser Bitte steckt der Wunsch, die Zustände sollen nicht so bleiben, wie sie sind.

 

 

In einer Reihe von Geschichten malte Jesus Bilder von diesem Reich vor Augen, so dass jedes Kind sich etwas darunter vorstellen konnte.

Das Reich Gottes ist wie ein großes Fest, zu dem alle an einem Tisch eingeladen werden. Die Leute von der Landstraße bekommen einen Platz, den ihnen niemand streitig macht.

Im Reich Gottes kommen die Kinder ganz nach vorn, und dürfen zeigen, wie lächerlich unwichtig Unterschiede sind, auf die die Großen Wert legen.

Keiner steht mehr unter dem anderen, nur weil er weniger hat oder schaffen kann. Da zählt was der Mensch braucht, und nicht was er leistet.

 

Einmal zeigte Jesus auf die Vögel oben am Himmel, die den ganzen Tag unterwegs sind um Futter suchen. Und dann sagte er, im Reich Gottes wird für die gesorgt, die kein Zuhause, kein warmes, sicheres Nest haben, und ums Überleben kämpfen müssen.

Was Jesus sagte, was er von Gottesreich sprach, das hatte Folge. Menschen die am Boden lagen und den Boden an Veränderung verloren hatten, die lernten neu aufrecht zu stehen, und wieder an ihre würde, ihren Wert zu glauben.

Einmal rückte eine Masse von 5000 Menschen zusammen, sie hatten Jesus lange zugehört, es war schon spät geworden, und nicht jeder hatte etwas zu essen dabei. Sie waren einander fremd, waren nur von der gleichen Neugier getrieben mehr vom Reich Gottes zu hören. Aber als Jesus anfing zu teilen was er hatte, wurde eine Gemeinschaft daraus. Die Leute staunten über sich selbst. auf einmal war der andere, der neben einem stand, nicht mehr Konkurrent oder feind. obwohl zunächst einige Angst hatten, es reiche nicht. Und die, die es erlebt hatten, die fühlten sich für einen Moment in diese Welt versetzt, von der Jesus sprach. Ja, jetzt ist das Leben so wie es sein soll. So sieht es aus, wenn Gottes Wille geschieht. Sie haben durch Jesus neu gelernt zu beten und zu hoffen. Dein Reich Komme. Für einen Moment war zu spüren, Gottes Welt ist nicht weit weg, kein Traum, kein vages Versprechen für irgendwann einmal. Sondern Wirklichkeit, mit Händen greifbar.

 

Aber der Himmel ist kein Ort. Gottes Reich hat keine festumrissenen Grenzen und erst recht keine Posten, die darüber entscheiden, wer hineingehört und wer nicht. Es wird in keinem Geschichtsbuch stehen, und Germany ist es auch nicht. Aber in dem Moment, in dem jemand sagt, „ich sorge mit dafür, dass Männer, Frauen und Kinder nach der schrecklichen Flucht in Sicherheit kommen können“, da hat die Bitte „Dein Reich komme“ eine Antwort gefunden. Das Reich Gottes geschieht, „es ist mitten unter Euch“, sagt Jesus.

Und Du kannst schneller mit beiden Beinen darin stehen, als du es jemals geträumt hättest. Ein Schritt heraus aus der Selbstzufriedenheit, in der es nur noch um dich geht. Einen Schritt heraus aus Angst etwas zu verlieren, wenn du deinem Mitgefühl traust. Und du bist mittendrin.

Ehrlich gesagt, das hätte ich gar nicht für möglich gehalten, dass genau das in den letzten Wochen an so vielen Orten bei uns geschehen ist. Für mich waren das Momente, in denen das Reich Gottes aufblitze. Es hat „Klick gemacht“ und man hat sich die Augen gerieben. So viele Bürgerinnen und Bürger sind aufgestanden und haben klar gemacht, hier sollen die, die aus Lebensgefahr geflohen sind willkommen sein, Hier sollen sie einmal nicht als Problem angesehen werden, sondern als Menschen, die uns brauchen.

Ein Schritt der dem Herzen, dem Mitgefühl raum öffnet, und es geschieht wovon Jesus gepredigt und wofür er gelebt hat. Ob die vielen engagierten Leute an ihn gedacht haben? Ich weiß das nicht. Vielleicht manche, Es gibt so viele Gründe anzupacken und zu helfen. Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man es beobachten könnte. Wie Gott unter uns Menschen wirkt, das geschieht meistens im Verborgenen. Aber er tut es. Jesus hat gesagt, so wie der Blitz wenn er aufflammt, von einem Ende des Himmels bis zum anderen leuchtet, so wird es mit dem Menschensohn sein an seinem Tag. Es gibt diese Himmelsmomente, in denen wir mit einem Mal die Welt in einem anderen Licht sehen und wissen wo wir gebraucht werden und was zu tun ist.

Wenn man von unserer Thomaskirche aus wenige hundert Meter weitergeht kommt man zu einem Berufskolleg, in dem junge Erwachsene zur Schule gehen und ausgebildet werden. Vor sieben Wochen wurde in der großen Turnhalle eine Notunterkunft für frisch angekommene Flüchtlinge eingerichtet. Da waren die jungen Erwachsenen vom Schulhof nebenan natürlich unsicher und verlegen. Was sind das für Leute? Dürfen wir mit denen reden? Aber eine traute sich und meinte, ich kann ein paar Brocken auf Arabisch, meine Freundin kann das sogar noch besser. Wir gehen einfach mal da hin und sagen „Wie geht es euch?“ Haben die nicht gerade ein großes Fest? Wie geht nochmal der Glückwunsch dazu? Was waren die stolz, als der marokkanische Junge strahlte, den sie ansprachen. Da leuchtete es wieder auf. so kann die Welt sein.

 

 

Germany, Deutschland, wir wissen das war nicht immer ein Sehnsuchtsort. Es war auch einmal ein Land, aus dem Männer, Frauen und Kinder fliehen mussten. Weil ihr jüdisches Leben als wertlos abgestempelt wurde. Eine Zeit in der überhaupt nichts von Gottes Gnade und Heil zu erkennen war. Morgen am 9. November erinnern wir uns wieder an den Jahrestag der Synagogenbrände 1938 und das schreckliche Erlebnis der Gottesfinsternis. An einen fanatisierten Mob, der in blinder Wut über Nachbarn herfiel, weil sie Juden waren. Damals haben viele, genauso wie Flüchtlinge heute, darauf gewartet, dass der Druck endlich aufhört, und wieder Vernunft und Friede zurückkehren. Und haben es nicht mehr erlebt.

Ganz bewusst erinnern wir uns Jahr um Jahr an die dunklen Jahre der Naziherrschaft. Ich bin sicher, dass uns diese Wachsamkeit heute hilft, das notwendige zu sehenund zu tun. Jesus hat vorausgeahnt: es werden Tage kommen, da werdet ihr danach verlangen, auch nur einen der Tage des Menschensohnes zu sehen, und ihr werdet ihn nicht sehen. Das Reich Gottes haben wir nicht zu unserer Verfügung. Wir können es nicht herbeizwingen oder festhalten. Nach der begeisterten Welle des Mitgefühls und des Willkommens auf den Bahnhöfen, spüren wir jetzt wieviel Kraft es kostet so viele Menschen aufzunehmen und unterzubringen. Wie viele Helferinnen und Helfer sind von ihren Einsätzen erschöpft zurück gekehrt und konnten nur noch hemmungslos weinen, weil ihnen so unvorstellbar schlimmes erzählt wurde?

Was wird sein, wenn wir hier in Deutschland merken, dass die angekommenen Flüchtlinge viel mehr Zeit brauchen, um sich an das neue Land zu gewöhnen? Wie werden wir Enttäuschungen aufnehmen, und wie wird es den Flüchtlingen in ein paar Monaten gehen, wenn sie merken, das ist hier auch nicht das Reich Gottes, es ist nur Deutschland?

Ein kleines Zimmer für 6 Personen, Dusche auf dem Flur - wenn sie funktioniert - Regen, 5 Grad Außentemperatur. Tage die immer kürzer und dunkler werden. Taschengeld das nicht reicht, um sich eine Fahrkarte zu kaufen, damit man nach Freunden und Familienangehörigen suchen kann. Und quälend viel Zeit, in der man nichts tun darf. Das ist die Wirklichkeit, in der sie landen werden. Es wird auch wieder ganz gerissene geben, die mit dieser Notlage ihre Geschäfte machen. Und solche, die aus der Sehnsucht nach einem vermeintlich besseren Gestern ihr politisches Kapital schlagen, und mit dummen Sprüchen Angst schüren werden.

 

Jesus wusste das, dass wir bald wieder mit wenigen Schritten zurückfallen können, in die alte Welt, in der Gottes Güte und Freundlichkeit vergessen sind. Er wusste auch, dass es immer wieder Hetzer geben wird, die sich selbst an die Spitze einer Bewegung stellen wollen. „Geht nicht hin, lauft nicht hinterher.“ Das rückt die Maßstäbe zurecht. Was wir vom Reich Gottes erleben, ist immer nur ein kleines Aufscheinen. Wir sind es nicht, die es herstellen können.

Jesus warnt ausdrücklich vor denen, die glauben, sie könnten es in die eigene Hand nehmen. Das wird nur in Enttäuschungen enden. Aber es gibt diese Erlebnisse, in denen für kurze Zeit spürbar wird, wie Gottes Wille geschieht. Jesus vergleicht sie mit einem Blitz, der den Himmel aufreißt. Er lässt plötzlich alles taghell aufleuchten. Für einen ganz kurzen Augenblick nur. Aber der reicht für die ersten Schritte. Ich weiß in welche Richtung ich gehen muss, und ich verlasse mich darauf, es wird bald auch wieder ganz hell werden.

Dein Reich komme. Wir bitten es immer wieder, und Gott wird darauf antworten. Auf seine Weise. Darum halten wir das Sehnen wach. Dass die Welt sich verändert, das machen nicht wir selbst, aber wir hoffen darauf, dass Gott es tut. Und erwarten es. Dein Reich komme. bis dahin werden wir immer wieder erzählen, dass wir das schon einmal staunend erlebt haben wie der Himmel aufgeblitzt ist. In einer glücklichen Begegnung, in einem spontanen Sprung über den eigenen Schatten - auf einmal steht man mitten drin in Gott Welt und weiß - ja, so soll es sein.

 

Seht, das Reich Gottes ist mitten unter Euch. Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn. Amen.