Der erste Tag in der Schule
Vor sieben Jahren bin ich Schulpfarrer geworden. Ganz schön aufgeregt betrete ich am ersten Tag das Gebäude. Alles ist neu für mich. Ich kenne noch keinen einzigen Schüler und nur wenige die Kolleginnen und Kollegen. Ein Kollege kommt sofort auf mich zu: "Es wäre doch schön, wenn es in dieser Schule mal wieder einen Gottesdienst geben würde," sagt er und weiter: "Früher gab es das hier einmal." Allerdings muss dieses früher schon sehr lange her sein. Von Gottesdiensten hatte die Schulleitung nichts gesagt. Auch die anderen Religionslehrer hatten darüber kein Wort verloren. Im Prinzip kommt mir das bekannt vor. In allen Kirchengemeinden haben Generationen von Pfarrerinnen und Pfarrern solche Erwartungen gehört und sind – Hand aufs Herz – oft an diesen Erwartungen gescheitert.
"Es wäre doch schön, wenn es in dieser Schule mal wieder einen Gottesdienst geben würde!" Eine dieser Erwartungen, wie in Kirchengemeinden. Nun ist meine neue Schule nicht unbedingt eine Kirchengemeinde. Sie ist oft nicht einmal eine echte Gemeinschaft. Die jungen Frauen und Männer in ihrer Ausbildung wechseln zwischen Betrieb und Schule. Vier Wochen Praxis, zwei Wochen Theorie. Wenn es Ferien gibt dauert die Pause noch länger, 8, 10, 12 Wochen. Eine emotionale Bindung an die Schule gibt es nicht. Fehlanzeige. Für die meisten ist spätestens nach drei Jahren Schluss. Kaum einer wohnt am Schulort. Lange Fahrwege sind die Regel. Wenn es zum Unterrichtsschluss blinkt, sitzen die meisten schon längst in den Startlöchern. Zum Zug wird gerannt oder der Autoschlüssel ist schon längst gezückt und ruht unruhig in der Hand. Nichts wie weg ist für viele die Devise. Einen besonderen Ort für Gottesdienste gibt es natürlich auch nicht. Und außerdem sind längst nicht alle Schülerinnen und Schüler christlich geprägt. Meine Schule mitten im Rhein-Main-Gebiet ist Spiegelbild der Gesellschaft. Es gibt alles – naja, fast alles. Katholiken und Protestanten, Muslime, Hindus, Buddhisten, Anhänger von keltischen und germanischen Kulten, und natürlich Schülerinnen und Schüler ohne jeden Glauben.
Ein Zimmer wird zur Schatzkammer
Es ist unmöglich, hier Gottesdienste zu feiern. Aber trotzdem lässt mich der Satz des Kollegen nicht los. Ich entwickele Ansätze. Und ich bilde ein Team aus Schülerinnen und Schülern und Lehrern. Wir legen los. Wir sammeln Ideen und verwerfen sie. Wir organisieren ein Zimmer für uns, Raum 138. Wir malen, basteln, hämmern und bohren. Wir gestalten den ganzen Raum selbst. Die Jugendlichen bringen sich ein und haben ganz sicher auch Spaß dabei. Schließlich ist unser Projekt fertig, Raum 138. Statt einer Tür trennt ein Lamellenvorhang den Raum vom Flur. Schatzkammer der Religionen und Weltanschauungen ist darauf zu lesen. Hinter dem Vorhang ist das Licht gedämpft. Große Sitzkissen ruhen auf einem hellen Parkettboden. Auf einer Wand sind Zitate von Jesus, Mohammed, Gandhi, Buddha oder auch Kant zu lesen, in goldenen Buchstaben. An der gegenüberliegenden Wand sind sechs Doppelschranktüren geöffnet. Alle in dezentes Licht getaucht. Die Schatzkammern. Hinduismus, Judentum, Christentum, Buddhismus, Atheismus, Islam. Bilder, Texte, Gegenstände, Bücher, Graphiken, pro Schrank ein Ordner um sich intensiver zu informieren. Zwei Preise gab es als alles fertig war. Auszeichnungen für einen besonders gelungenen Beitrag zum interreligiösen Arbeiten mit Jugendlichen. Und die Schülerinnen und Schüler sind stolz darauf. Mit Fug und Recht.
Ein Wunsch geht in Erfüllung
Und tatsächlich gibt es wieder Gottesdienste. Sie heißen anders und laufen vielleicht nicht ganz so ab wie sie der Kollege im Sinn hatte. Jeden Donnerstag können Schülerinnen, Schüler und Mitglieder des Kollegiums fünfzehn Minuten innehalten. Literatur, Musik, Gedichte, Texte aus der Bibel oder dem Koran, klassische Andachten. Was genau stattfindet erschließt sich immer erst am Tag und im Raum selbst. Der Impuls entfaltet sich wie das Öffnen einer Schatztruhe. Spannung und Überraschung. Acht Lehrerinnen und Lehrer bilden das Impulsteam. Sie sprechen sich ab, wer dran ist und was inhaltlich passiert.
Diese Viertelstunde ist .ein offenes spirituelles Angebot, das in einer Berufsschule niemanden ausgrenzt. Ganz im Gegenteil: die Schatzkammer lädt dazu ein den eigenen Glauben zu leben. Und gleichzeitig den Glauben und die Spiritualität der anderen kennen- und verstehen zu lernen.