Predigt zum Nachlesen:
Die Sonne versinkt im Meer. Die Möwen kreisen über den Booten. Es ist Sommer und vor dem Supermarkt im italienischen Mondragone wartet Felice. Auf die Liebe. Seines Lebens. Auf Maksym. Zwei Männer, etwa 1,80 groß, schlank, dunkelhaarig. Sie stehen sich gegenüber. Sie lächeln sich an und wissen: der ist es! Maksym und Felice. Sie küssen sich. Diese eine Liebe beginnt.
Dann geht alles ganz schnell: Maksym zieht kurze Zeit später mit wenig Gepäck und ohne Deutschkenntnisse in eine Kleinstadt bei Hannover, beide ziehen zusammen. Kurz danach stehen die beiden schwulen Männer vor dem Traualtar: Sie feiern die Liebe Ihres Lebens. Als Pastor spende ich den beiden den Segen Gottes für ihr Leben – während ihrer Trauung. Der Segen für Ihr gemeinsames Leben war Maksym und Felice enorm wichtig. Wie wunderbar! Wie normal! Wie selbstverständlich! Aber normal war das nicht für alle.
Draußen vor Kirche standen Zaungäste und fragten: „Seit wann werden denn solche Menschen in der Kirche getraut.“ Ich sagte: „Seit heute!“ Für die Zaungäste war diese schwule, kirchliche Hochzeit ein NoGo, diese Art des schwulen Lebens ein Makel. Wie wunderbar und gleichzeitig verwundbar – diese Liebe von Maksym und Felice ist.
Diese Art der Diskriminierung ist noch lange nicht zu Ende. Selbst nicht vor der eigenen Haustür: Wo vor einigen Wochen zwei homosexuelle Paare am Steintor und in Garbsen mit Gewalt angegriffen wurden – wegen ihrer Lebensbeziehung! Und auch nicht weltweit: Wenn Torwart Manuel Neuer die Kapitäns-Binde in Regenbogenfarben ablegen muss, weil die Fifa keine „One-love-Binde“ bei der Fußball-Weltmeisterschaft duldet – ein Symbol für Vielfalt, Offenheit und Toleranz. Oder ganz privat: Wenn ein Bekannter, der sich als transsexuell begreift, Angst vor der Öffentlichkeit hat: Die kleinbürgerliche Umgebung, die Normen der Kirchengemeinde, das gesellschaftliche Ansehen im Dorf. Es würde zerbrechen, seine Eltern würden es nicht verstehen, sagt er. So lebt er ein Doppelleben, weit entfernt in einer großen Stadt. Er identifiziert sich nicht mit dem Geschlecht, in dem er lebt und möchte körperlich und sozial als Frau leben. Sein Wunsch ist es, seinen Körper durch hormonelle oder operative Maßnahmen in Übereinstimmung zur Identität zu bringen. Aber er traut sich nicht.
Er lebt in einem gefühlten Gefängnis.
Solche gefühlten Gefängnisse gibt es offenbar häufig: Und das in einer Gesellschaft, in der Diversität eigentlich ein großes Thema ist in der Debatte um Gerechtigkeit im Umgang mit Randgruppen. Und das in einer Kirche, in der seit vielen Jahren um Gleichberechtigung und Segnung von gleichgeschlechtlichen Paaren gerungen wird: Für viele queere Menschen ist das ein Thema. Trans* und inter*geschlechtliche Menschen haben es schwer in einer klar geordneten Gesellschaft einen Platz zu finden. Immerhin müssen bei Stellenausschreibungen seit einiger Zeit mehr also nur zwei Geschlechter genannt werden: maskulin, feminin und divers.
Doch was ist divers? So lange es nur eine Formalie ist, bleibt divers ungelebt, ungeliebt, ungeachtet: Lesbisch, Schwul, nicht-binär*, inter* oder trans*? Selbst in der Kinderklinik auf der Bult in Hannover ist das ein Thema. Immer mehr Kinder und Jugendlichen zweifeln an dem bei ihrer Geburt zugeordneten Geschlecht. Gründe dafür sei die gesteigerte Sensibilität der Gesellschaft für Diversität, sagt Oberarzt Frank Fischer. Es sei viel einfacher geworden, die eigene sexuelle Orientierung, die eigene Identität und die Zugehörigkeit sogar zum eigenen Körper zu thematisieren.
Und er hat Recht. Hier in Linden, im bunten Stadtteil Hannovers, gibt es viele soziale Räume, in denen ein solches „coming out“ mit Beziehungsangeboten mit offenen Armen begrüßt wird, wie etwa in offenen Jugendtreffs – ganz real. Kein gefühltes Gefängnis. Aber längst nicht überall ist das so.
Wenn ich die Worte der Bibel ernst nehme, dann zeichnet sie im biblischen Sinne ein Menschenbild ab, das von Diversität, Freiheit und Würde gekennzeichnet ist.
„Da ist nicht jüdisch noch griechisch, da ist nicht versklavt noch frei, da ist nicht männlich und weiblich: denn alle seid ihr einzig-einig im Messias Jesus", schreibt Paulus an die Galater im 3. Kapitel, Vers 28. Von Anbeginn des christlichen Glaubens stand die Einigkeit in Jesus Christus im Mittelpunkt, die alle Unterschiede aufhebt und die Menschen zu freien und gleichen Personen macht. Auch Martin Luther hat diese Freiheit des Christenmenschen entdeckt. Er wollte eine Kirche, die den Menschen diese Freiheit verkündet, statt sie einzuengen in Gesetze, Vorschriften und Drohungen. Luther war davon überzeugt: Die Gotteskraft ist der ganzen Welt versprochen. Nicht nur ich selbst erlebe mich durch diese Kraft „wie neu geschaffen“, sondern die ganze Welt wird sich „wie eine neue Schöpfung“ erleben, so Luther. Das heißt: Bin ich befreit, dann handele ich mit Liebe meinem nächsten Gegenüber. Dann sehe ich meinen Nächsten als Geschöpf Gottes mit einer unantastbaren Würde an. Dann kann ich meinen Mitmenschen vergeben. Dann handele ich aus Freiheit für die Freiheit aller Menschen.
Die Reformbewegungen in der katholischen Kirche wie etwa „Wir sind Kirche" und Maria 2.0 formulieren das so: „Die Kirche braucht einen neuen und positiven Zugang zur Sexualität, ihrer bewussten Gestaltung und der Tatsache, dass Sexualität zum Leben gehört, … Heterosexuelle, Lesben, Schwule, trans- und intergeschlechtliche Menschen – alle gehören gleichwertig zu unserer Kirche. Es darf hier keine Verurteilungen und Diskriminierungen mehr geben."
All das sind Thesen, die für mich selbstverständlich klingen. Und immer noch ist es so, dass in vielen Debatten queer mit „nicht konform“ verstanden wird. Ein Begriff, der vielen Menschen nach wie vor unbekannt oder sogar fremd, ja befremdlich ist. Dabei ist diese Gabe der Queerness eine Gabe von vielen innerhalb der Kirche. Paulus spricht von den Gliedern mit unterschiedlichen Aufgaben und Begabungen. Die queere Bewegung hat die Gabe und die Aufgabe in Kirche wie in Gesellschaft ihre Belange, Ideen und Aspekte einzutragen: Aufklären, Argumentieren, Bilden. Die queere Bewegung hat darüber hinaus eine unüberschätzbare Möglichkeit: Empowerment! Menschen ermutigen, aus ihren gefühlten Gefängnissen auszubrechen. Sie zu animieren und motivieren, Räume schaffen, damit jede und jeder das Leben so leben kann. Gleichzeitig ermahnt die queere Bewegung Kirchenleitungen und Politik, kirchliche Sexualmoral und kirchliches Arbeitsrecht im Sinne wissenschaftlicher Erkenntnisse sowie des gelebten Lebens weiterzuentwickeln.
Queerness muss leuchten mit bunten Farben so wie der Regenbogen. Ein traditionelles Symbol: seit den frühen 1960er Jahren gab es die „PACE-Fahne“ in der Friedensbewegung. Seit den 1970er Jahren ist es ein Erkennungszeichen der internationalen Schwulen- und Lesbenbewegung. Heute ist die Regenbogenfahne ein generelles Plädoyer für Vielfalt.
Aber der Ursprung der Flagge kommt von Gott:
Da malte Gott einen schönen, kräftigen, hell leuchtenden Regenbogen an den Himmel und sagte zu Noah: „Das ist das Zeichen des Bundes, den ich gemacht habe zwischen mir und euch und allen lebendigen Seelen bei euch hinfort ewiglich: Meinen Bogen habe ich gesetzt in die Wolken; der soll das Zeichen sein des Bundes zwischen mir und der Erde.“
Diese Worte stammen aus dem 1. Buch Mose 9, 12-13. Worte, die eines deutlich machen: Gottes Bogen gilt allen Menschen, alle sind gleichwürdig. Und diese Gleichwürdigkeit bedarf des Segens wie bei der Trauung von Maksym und Felice. Segen heißt: Gott ist es, der oder die das Leben begründet, trägt und heilt.
Und auf dieser Basis ruht die evangelische Freiheit zur Lebensgestaltung. Aus diesem Segen entspringt meine persönliche Freiheit. In allen möglichen bunten Farben.
Amen
Es gilt das gesprochene Wort.