www.medio.tv/Christian Schauderna
Rundfunk-Gottesdienst aus Kassel
Live-Übertragung aus der Evangelischen Karlskirche, Kassel
01.01.2024 09:05
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Predigt zum Nachlesen:
I

Der Gott der Liebe und des Neuanfangs schenke uns ein Wort für unser Herz und ein Herz für sein Wort. Amen.

Was für ein besonderer Moment. Der Start ins neue Jahr ist für mich von je her ein verzauberter Tag. Früher auf dem Sofa. Neben meinem Vater, dessen Stimme wie ein Bär brummte nach der langen Feiernacht. Wir Kinder blieben im Schlafanzug und alle schauten das Neujahrsskispringen. Ein gemütliches Hineingleiten in all das, was kommen wird.

Seitdem ich erwachsen bin, mache ich am Neujahrstag, wenn ich nicht gerade Gottesdienst halte, ein ausgiebiges Frühstück mit Freundinnen und Freunden. Wir reden darüber, was dieses Jahr vor uns liegt. Mit einer Mischung aus leichtem Unwohlsein und gespannter Vorfreude. Unwohlsein nicht nur wegen der kurzen Nacht, sondern auch, weil man ja nie weiß, was kommen wird. Welche Herausforderungen bringt dieses Jahr wohl? Mit dem vergangenen Jahr im Rücken ist das Unwohlsein dieses Mal leider besonders groß. So viele Krisen und Konflikte sind nach wie vor virulent. Ob 2024 besser wird?

Trotzdem gibt es auch gespannte Vorfreude, weil ich manches schon geplant habe oder erhoffe. „Frohes Neues“ blinkt es jetzt zigfach auf dem Handy. Dieses Jahr sind es besonders viele gute Wünsche – sie sind für uns alle wirklich nötig.

Bei unseren Neujahrsfrühstücken ist es üblich, dass jede und jeder sagt, was er oder sie sich wünscht für das kommende Jahr. Egal ob ein neuer Job oder die große Liebe – an diesem Vormittag wird sich viel anvertraut. Weil wir zart und verletzlich sind zum Beginn des Jahres. Es geht nicht nur um Wünsche. Auch um bewusst gestaltete Veränderungen. „Vorsätze“, wie es so schön heißt.

In diesem Jahr übernehme ich Wunsch und Vorsatz einfach. Aus einer fast 2000 Jahren alten Aufforderung an Christinnen und Christen: „Alles bei euch soll in Liebe geschehen.“ (1. Kor 16,14)

Paulus hat das seiner Gemeinde in Korinth geschrieben. Denn dort gibt es Querelen. Die Leute haben verschiedene Ansichten, wie das Christsein funktioniert. Es gibt dort Parteien, verschiedene Gruppen, die sich gegenseitig niedermachen. Jeder weiß besser, wie es geht mit dem Leben als Christ. Außerdem sind die Unterschiede zwischen Reichen und Armen schmerzlich spürbar.  

Die einen hauen sich den Bauch voll vor dem Abendmahl, die anderen bleiben hungrig.

Und der Klassiker: In Korinth herrscht Streit darüber, wer eigentlich die bedeutsamsten Aufgaben in der Gemeinde übernommen hat und also am wichtigsten ist.

Das klingt alles verdächtig nach Problemen, die uns bis heute beschäftigen. In der Gemeinde und in der Gesellschaft. Darum bittet Paulus eindringlich: „Alles bei euch soll in Liebe geschehen“

Das ist nicht nur ein „frommer“ Wunsch, sondern ernstgemeint. Es ist ein Vorsatz. Etwas, das jede und jeder selbst angehen muss. Paulus wünscht sich und den Gemeindegliedern in Korinth ein faires und gutes Miteinander. Er weiß aber, dass das nur gelingt, wenn alle daran mitwirken. Für Paulus ist Liebe kein romantisches Gefühl. Es ist ein Tun.

Eine Haltung, die das ganze Leben prägt.

 

II

Liebe ist für Paulus eine Haltung. Ich kenne eine Frau, die aus dieser Haltung heraus ihr Leben gestaltet. Sie heißt Selma und ist die Großmutter von Luise. Die beiden stammen aus dem Roman von Mariana Leky „Was man von hieraus sehen kann“.

„Heim-li-che Lie-be“. Das klingt noch stockend, ist aber ein großer Moment. Die kleine Luise hat Lesen gelernt. Von ihrer Großmutter Selma und ihrem Freund dem Optiker. Die beiden haben sich einen sehr motivierenden Ort ausgesucht, um zu lernen: Das Eiscafé im Dorf. Und die „heimliche Liebe“ ist einer der Becher, die sie am liebsten essen. Kein Wunder, dass die kleine Luise das zuerst lesen kann. In Selmas Leben geht es viel um heimliche Liebe. Nicht in dem Sinne, dass die Liebe geheim gehalten werden muss. Sie ist oft hinter Alltäglichem verborgen.

Selma ist für mich ein Vorbild in einer Liebe, die sich kaum über Worte oder Gefühle äußert. Selma macht einfach. Wahrscheinlich, weil sie lange Zeit überhaupt keine Energie für Gefühle oder große Worte hatte. Früh verwitwet, alleinerziehend, in einem nur halb fertigen Haus. Da ist nicht viel mit Reden oder Fühlen, sondern es gilt zu handeln.

Und das macht Selma ihr Leben lang. Unaufgeregt, aber geduldig und gütig mit ihren Mitmenschen. Erst kümmert sie sich um ihren Sohn, dann um dessen Tochter, die kleine Luise.

Selmas Liebe erkennt man auf den zweiten Blick. Sie gibt nicht damit an. Sie spielt sich nicht in den Vordergrund.

Zwei Szenen finde ich dafür besonders eindrücklich. Die eine spielt am Dorfrand. Beim Haus des stadtbekannten Ekels, der böse Hunde hält und immer wieder damit droht, diese auf andere zu hetzen. Als er voll Trauer und Suff gar nicht mehr aus dem Haus kommt, geht Selma einkaufen. Fleischwurst, eine ganze Tüte voll. Damit versorgt sie die Hunde. In diesem Fall ist Fleischwurst Liebe.

Der Halter der Hunde bekommt statt Wurst eine Standpauke von Selma. Eine klare Ansage, dass sein Leben so nicht weitergehen kann. Ganz bestimmt hat er das nicht als liebevoll empfunden.

Aber auch diese verbale Ohrfeige ist eine Form von Liebe. Selma zeigt ihm, dass sie ihn nicht aufgibt. Sie lässt sich weder von seinen Hunden noch von seiner aggressiven Art abschrecken. Sie eröffnet ihm so eine Chance zum Neuanfang.

Die andere Szene zeigt, dass die Liebe nicht nur im Handeln besteht, sondern auch im Aushalten und Lassen. Wer liebt muss manchmal ganz schön was ertragen.

In Selmas Leben sehe ich das daran: Für ihre Enkelin Luise bedeutet sie die Welt, ihr Sohn kann aber mit Selmas Welt wenig anfangen. Regelmäßig erklärt er ihr, dass sie ein spießiges Leben führe. In der Kleinstadt, mit Vorabendserie, Familie und Mon Cherie.

„Sie müsse mehr Welt hineinlassen“, sagt er ihr immer wieder. Aber Selmas Welt ist das Dorf und die Menschen, mit denen sie dort zusammenlebt. Sie mag ihren Alltag. Es ist auch eine Form von Liebe, die Vorwürfe ihres Sohnes auszuhalten und ihn ziehen zu lassen. Er liebt Reisen und ist oft in der Welt unterwegs. Selma respektiert, dass ihr Sohn anders leben will als sie.

Selma zeigt für mich, was es heißen kann, dass „alles in Liebe geschehe“. Hier gelingt das faire und respektvolle Miteinander. Sogar mit denen, die keine Sympathieträger sind.

Selma ist eine Romanfigur. Aber es gibt Menschen wie sie. Wahrscheinlich mag ich Selma deshalb so gern, weil sie mich an meine Großmutter erinnert. Nach Schicksalsschlägen ernüchtert, aber nicht resigniert. Liebevoll in dem, was sie tat. Und ähnlich wie Selma konnte meine Oma klare Ansage machen. 

Welche Menschen fallen Ihnen ein, die im Alltag so aus Liebe heraus leben?

 

III

Die biblische Jahreslosung mache ich zu meinem Wunsch und Vorsatz für 2024: „Alles bei euch geschehe in Liebe!“

Das ist nicht nur eine Privatangelegenheit. Evangelische und katholische Christen haben diesen Satz für 2024 ausgewählt. Auch die Kirchen werden sich also daran messen lassen müssen.

Wenn eine Organisation heutzutage ein Projekt angeht, dann macht sie zuerst eine Machbarkeitsstudie. Wahrscheinlich würde diese für das Projekt „Alles in Liebe“ nicht positiv ausfallen. Dazu genügt ein kurzer Blick in die Welt Alles in Liebe – das schafft kein Mensch und keine Organisation.

Paulus, der das mit der Liebe geschrieben hat, weiß sehr gut, dass dieser Satz eine Herausforderung ist. Sein halbes Leben lang war er einer, der es besser wusste und sich immer wieder über andere stellte. Ein Eiferer und Angeber. Er war ursprünglich kein Christ, sondern hat die Christen verfolgt. Er war überzeugt: In Sachen Religion macht mir niemand was vor. Da mache ich alles richtig. „Liebe“ war dabei nicht der Maßstab. Eher „Ordnung“ oder vielleicht „Richtigkeit“.

Aber in seinem Leben gab es eine einschneidende Erfahrung:

Es haut ihn um. Er ist auf dem Weg nach Damaskus, um dort Christen aufzuspüren. Da sieht er auf einmal ein Licht, das ihn blendet. Er fällt auf die Erde und hört eine Stimme: „Warum verfolgst du mich?“ Paulus fragt: „Wer bist du?“ Die Stimme antwortet: „Ich bin Jesus, den du verfolgst.“ Immer noch geblendet kommt er in die Stadt und erlebt, was er nicht für möglich gehalten hat: Ausgerechnet seine Feinde, die Christinnen, die er verfolgt hat und denen er den Tod bringen wollte, helfen ihm. Sie versorgen und beschützen ihn.

Nach und nach kann er wieder sehen und wird selbst Christ.

Die Vision mit dem Licht und der Stimme von Jesus und was er von da an erlebt, das begreift Paulus als die Liebe Gottes. Über diese Liebe schreibt er mit den schönsten Worten, die er finden kann:

„Die Liebe ist geduldig und gütig. Sie eifert nicht. Sie prahlt nicht. Die Liebe sucht nicht den eigenen Vorteil. Sie rechnet das Böse nicht zu.“

Die Liebe ist kein fernes Ideal. Paulus hat sie erlebt. Seine persönliche Machbarkeitsstudie war erfolgreich. Und weil er weiß, dass es das gibt, kann er seiner Gemeinde in Korinth wünschen: „Alles bei euch soll in Liebe geschehen!“ Er traut den Christinnen und Christen damals, er traut uns etwas zu!

Nach wie vor gibt es diese Erfahrung und das Vertrauen in Gottes Liebe.

Der Dichter Hanns Dieter Hüsch hat das so formuliert:

„Ich setze auf die Liebe

wenn Sturm mich in die Knie zwingt

und Angst in meinen Schläfen buchstabiert

ein dunkler Abend mir die Sinne trübt

ein Freund im anderen Lager singt

ein junger Mensch den Kopf verliert

ein alter Mensch den Abschied übt.

 

Das ist das Thema

den Hass aus der Welt zu entfernen

und wir bereit sind zu lernen

dass Macht Gewalt Rache und Sieg

nichts anderes bedeuten als ewiger Krieg

auf Erden und dann auf den Sternen.

Ich setze auf die Liebe! Schluss!“

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle menschliche Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Amen.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

DLF-Gottesdienste