Das Vogelnest in der Kirche

Wort zum Tage
Das Vogelnest in der Kirche
28.08.2017 - 06:20
28.08.2017
Diederich Lüken

Wenn man in Bad Wimpfen bei der Kirche St.Peter den Kreuzgang entlanggeht, kann man an einem Pfeiler ein in Stein gehauenes Vogelnest entdecken, in dem eine Vogelmutter zwei kleine Vogelkinder versorgt. Man kann dieses Detail mit der spätgotischen Verspieltheit erklären, die so manche denkwürdige Figur hervorgebracht hat. Es kann auch sein, dass der Bildhauer mit der nährenden Vogelmutter einen Hinweis auf Jesus Christus angebracht hat, der die Seinen mit der notwendigen Lebens- und Glaubenskraft versorgt.

 

Einen anderen Vorgang verbindet der Dichter Nikolaus Lenau mit diesem Vogelnest. In einem Gedicht erklärt er, wie ein Mönch über die Albigenser-Kreuzzüge des 13. Jahrhunderts nachdenkt. Was ihm das Herz schwer macht, ist die unglaublich brutale Gewalt, die von den Kämpfern für den rechten Glauben angewandt wurde. Wenn ein südfranzösisches Dorf, in dem Albigenser wohnten, von den Söldnern erobert worden war, wurden manchmal alle Bewohner, gleich, welchem Glauben sie anhingen, ermordet. „Tötet sie alle!“ soll ihnen ein Abt nachgerufen haben, „Gott wird die Seinen erkennen!“ Die Überlebenden fallen später der Inquisition zum Opfer. So wird die Kirche Herr über die Abweichler und merkt dabei gar nicht, dass sie selbst von der Friedens- und Feindesliebe ihres Herrn in grauenhafter Weise abgewichen ist.

 

Dieser Mönch aber merkt das und schämt sich für die Kirche Jesu Christi, die sich so zum Bösen hat hinreißen lassen. Anstatt nun aber sich über die Übeltäter von Südfrankreich zu erheben, geht er in sich und erforscht, ob solche Grausamkeit auch in seinem eigenen Herzen wohnt. Und siehe da, eine Erinnerung bemächtigt sich seiner: Hat er nicht als Kind ein Vogelnest gefunden und es mit einem Steinwurf zerstört? Und er muss sich eingestehen: Der Drang, das Glück boshaft zu zerstören, ist auch in seiner Seele.

 

In zitiere Lenau: „So klagt der Mönch und kann sichs nicht vergeben, Dass er den Vöglein brach ihr junges Leben. Und das Zerstörte wieder aufzubauen, Hat er das Nest im Felsen ausgehauen. Oft sah man ihn zu seinem Bilde kehren, Um seine stille Wehmut dran zu nähren.“

 

Ich möchte das Gedicht Lenaus dahingehend verstehen, dass es nicht ausreicht, das Zerstörte in einem Bildnis zum Gedächtnis vor sich hinzustellen und in Reue davor zu zerfließen. Vielmehr zeigt der Mönch mit seinem Vogelnest von Wimpfen, dass auch im Herzen eines frommen Menschen die Möglichkeit zu jedem Bösen schlummert. Deshalb mahnt das Vogelnest, wachsam zu sein mit sich selbst, damit man dem treu bleibt, der das Böse mit der Liebe zum Nächsten und zum Feind überwindet.

28.08.2017
Diederich Lüken