Morgenandacht
Über Türme und Kirchtürme
05.08.2019 06:35
Sendung zum Nachlesen

Lange Zeit waren die Kirchtürme prägend für die Dörfer und Städte in Europa. Auf dem Land waren sie weithin zu sehen. Und in den Städten wetteiferten die Gemeinden und Stadtteile darum, wer den prächtigsten Turm bauen konnte. Wer hatte den höchsten Turm? Der Bischof? Das Kloster? Die Bürger der freien Reichsstädte?

Türme waren Zeichen für Macht und Möglichkeiten. So war das schon von Anfang an. Die Bibel erzählt gleich zu Beginn, wie die Menschen einen Turm bauen wollten, „um sich einen Namen zu machen“ (Gen 11). Sie wollten sich anscheinend selber vor Augen führen: Schaut her, das sind wir. Und das haben wir geschafft. Sind wir nicht großartig? In der Renaissance, als man den Menschen statt Gott in den Mittelpunkt der Welt gestellt hat, bauten die Italiener in der Toskana Geschlechtertürme. Jede wohlhabende Familie hat sich einen gebaut, immer möglichst höher als die der anderen. In San Gimignano stehen heute noch 15 der ehemals 72 Türme. Türme als Zeichen dafür, wer die Macht hat und das Geld. Sollen die Kirchtürme womöglich zeigen, dass die Kirchen das Sagen haben in Europa? Zeigen sie, dass wir hier in Europa Christen sind?

Die ersten Kirchen hatten aber gar keinen Turm. Ganz am Anfang haben sich die Christen zum Gottesdienst ja in Privathäusern versammelt. Und als man mehr Platz brauchte, da hat man Versammlungshäuser gebaut, die konstruiert waren wie eine Markthalle. Daher kommt der Name Basilika. Solche Hallen hatten keinen Turm.

Seit dem 6. Jahrhundert hat man dann, zuerst in Italien, Glockentürme gebaut. Anfangs freistehend, als Campanile, neben der Basilika. Das hatte überhaupt nichts mit Glauben oder Theologie zu tun. Der Grund für diese Neuerung war ein ganz praktischer. Die Christen wurden immer mehr und man fing an, sie mit einer Glocke zum Gottesdienst zu rufen. Damit man die weithin hören konnte, wurde sie in einen Turm gehängt. Erst seit dem 11. Jahrhundert baute man dann Kirchen gleich mit dem Turm zusammen und der Turm bekam eine dominierende Funktion. In der Gotik dann, ab dem 12. Jahrhundert wurden die Türme immer höher, aufstrebend und prächtig – entsprechend dem Ideal der Gotik. Natürlich zur Ehre Gottes – wie die gotischen Kirchen ja überhaupt zum Himmel weisen sollten. Aber schon auch zur Ehre der Menschen, die sie gebaut hatten.

Neben dem Geläut (auch das immer größer und prächtiger, mit mehreren Glocken) bekam der Kirchturm dann auch weitere Funktionen: Turmuhren waren die ersten mechanischen Uhren überhaupt. Sie dienten allen Einwohnern eines Ortes zur Orientierung. Eine eigene Uhr hatten nur die ganz reichen. Und dann gab es auf den Türmen in der Stadt oft auch eine Türmerstube und einen Türmer als Wächter, der vor Überfällen warnte, Brände bemerken sollte und bei Gefahr Alarm läuten konnte.

Die Kirchtürme waren also zunächst vor allem praktische Einrichtungen zur besseren Bewältigung des Alltags für alle, auch für die, die nicht an Gott glauben konnten.

Einen geistlichen, „christlichen“ Grund gab es nicht für den Bau der Kirchtürme. Im Gegenteil: Die Reformbewegung der Zisterzienser zum Beispiel hielt die Kirchtürme für eitlen Prunk und baute deshalb auf ihre Klosterkirchen nur kleine Türmchen, sogenannte Dachreiter, für eine kleine Glocke. So einen Dachreiter kann man z.B. in Bebenhausen sehen oder im Kloster Maulbronn.

Warum ich das alles so ausführlich erzähle? Weil ich es interessant finde, klar. Aber auch weil manche Leute Angst haben, das kulturelle Erbe Europas könnte in Gefahr geraten, wenn in ihrem Ort irgendwo auch eine Moschee gebaut wird mit Minarett. Dabei werden die Kirchtürme doch von ganz anderen Türmen in den Schatten gestellt, genau wie die Minarette. Wenn man mit dem Zug zum Beispiel durch Frankfurt fährt, kann man das gut sehen: Da sieht man vor allem Bürohochhäuser und Bankentürme. Dahinter und darunter verschwinden die Kirchtürme. Und in den wohlhabenden Staaten am arabischen Golf sind auch längst die funkelnden Hochhaustürme weit höher als jedes Minarett.

Das gibt mir viel mehr zu denken, wenn doch Türme Zeichen von Macht und Identität sind. Wer die europäische Kultur retten will, sollte das im Blick haben: Wer baut eigentlich heute die höchsten Türme und zeigt damit seine Macht?

 

Es gilt das gesprochene Wort.