"Alles hat seine Zeit und jedes Ding hat seine Stunde… Krieg hat seine Zeit und Friede hat seine Zeit." Wirklich? Krieg hat seine Zeit? Jörg Machel erzählt von Nikolai aus der Ukraine. Der sieht das anders.
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"Alles hat seine Zeit und jedes Ding hat seine Stunde." (Kohelet 3,1 und f.f.) Ein Zitat aus der Bibel. Im Predigerbuch, wird es dem weisen König Salomon zugesprochen und leitet eine lange Aufzählung von Gegenpaaren ein. Da liest man zum Beispiel:
Geboren werden hat seine Zeit und sterben hat seine Zeit,
weinen hat seine Zeit und lachen hat seine Zeit,
klagen hat seine Zeit und tanzen hat seine Zeit,
Krieg hat seine Zeit und Friede hat seine Zeit.
Nikolai merkt auf. Verhält es sich tatsächlich so, wie es in der Bibel steht? Gibt es wirklich eine Zeit für den Krieg? Und muss man dann bereitstehen und selbst zur Waffe greifen? Noch bevor ihn ein Einberufungsbefehl erreichen konnte, hat Nikolai die Ukraine verlassen. Inzwischen wäre es wohl zu spät, so spekuliert er. Viele seiner Freunde sind mittlerweile an der Front. Einige von ihnen sind gefallen. Es geht ihm nicht gut damit. Ist er ein Drückeberger, wie manche ihm vorwerfen? Hat er sein Land, seine Landsleute im Stich gelassen? Hätte auch er in den Krieg ziehen sollen?
Nikolai fand es befremdlich, als deutsche Politiker darüber nachdachten, ob wehrfähigen Männern aus der Ukraine tatsächlich ein Schutzstatus in Deutschland zusteht. Deutschland liefert das Kriegsgerät und die ukrainischen Männer sollen damit gefälligst in den Krieg ziehen, ihr Land verteidigen. Das ist der Deal. Nikolai ärgert sich, wie großspurig manche Menschen, den Krieg in der Ukraine von ihrem Sessel aus gewinnen und wie wenig sie dabei von der Realität an der Front zu wissen scheinen.
Auch er selbst hat ja nie im Schützengraben gelegen, aber über die Schilderungen seiner Freunde ist er dem Wahnsinn des Krieges doch sehr nahegekommen. Er hat gehört, wie es ist, Leute neben sich sterben zu sehen. Er weiß inzwischen, dass die Todesschreie von der gegenüberliegenden Frontlinie genauso traumatisierend sein können, wie das Leid der eigenen Leute.
Vor allem aber weiß Nikolai zu unterscheiden: zwischen den öffentlichen Aufrufen zum Kampf und der Realität. "Die Söhne von Politikern findest du nicht im Schützengraben, dort wo die Granaten einschlagen. Auch die Kinder der Reichen und Mächtigen landen, wenn sie denn überhaupt eingezogen werden, in der Etappe, wo es nur selten Tote gibt."
Diejenigen, die am meisten riskieren in einem Krieg sind gleichzeitig diejenigen, die von einem eventuellen Sieg am wenigsten profitieren. Die ganz einfachen Leute, die zu tausenden in der vordersten Front ihr Leben aufs Spiel setzen, bedauert Nikolai. Für sie wird sich wenig ändern, egal wie der Krieg endet, so vermutet er. So wie der Wechsel von der Sowjetunion zu einer selbstständigen Ukraine für sie keine wirkliche Befreiung war. Sie leben weiter von der Hand in den Mund, so war es und so ist es geblieben.
Nikolai dagegen hat das freie Leben durchaus geschätzt, das es zeitweise in der Ukraine gab. Aber er hat gespürt, dass diese Freiheit immer bedroht war und zwar nicht nur durch Russland, sondern auch von innen her. Und wenn er sich die Entwicklung während dieser drei Kriegsjahre anschaut, so spürt er, dass genau das von innen her verloren zu gehen droht, wofür man ihn doch vorgeblich an die Front schicken möchte.
Nikolai widerspricht dem Prediger vehement. Nein, eine "Zeit für Krieg" gibt es nicht. Streit mag erlaubt sein, aber immer dann, wenn aus Streit Krieg wird, geht alles verloren, wofür man sich doch eigentlich einsetzen möchte.
Es gilt das gesprochene Wort.
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